Selbstmord - und was dann?
von S.M.
Habt ihr schon einmal jemanden getroffen, der Selbstmord begangen hatte, dann aber durch Wiederbelebungsmaßnahmen oder andere Umstände wieder in den Körper zurückkehrte und davon berichtete, was er erlebte? Ich nicht. Aber mir fiel ein Buch in die Hände, in welchem eine Frau von ihrem Selbstmorderlebnis und ihrem Leben bis hin zum Selbstmord berichtet. Dieses Buch ergriff mich zutiefst und ich spürte: „Ja, es ist wahr, was diese Frau hier schreibt. Sie hat dieses tatsächlich erlebt".
Es gibt momentan viele Menschen, die mit dem Gedanken Selbstmord zu begehen spielen. Nun, hier hat man jetzt die Möglichkeit einmal hinter die Kulissen zu schauen und durch dieses direkte Erfahrungserlebnis zu sehen, was einem dann geschieht.
Hier wird nun eine Szene aus diesem Buch „Jenseits der Finsternis" von Angie Fenimore (Knaur-Verlag, zur Zeit Vergriffen), geschildert, in welcher sie, nachdem sie jede Menge Tabletten geschluckt hatte, spürt, wie es geschieht - das Sterben. Zuvor hatte sie in diesem Buch ihren langen Leidensweg geschildert bis zu diesem Punkt hier, wo sie meinte es nicht mehr auszuhalten. Das ist ein Grund für Menschen, einen Selbstmord in Erwägung zu ziehen. Ein anderer Grund kann Neugierde sein, um zu sehen, wie es „dahinter" aussieht. Im Internet gibt es momentan richtige Verabredungen mit dem Hintergedanken sich dann „drüben" wieder zu treffen. So etwas sollte gut überlegt sein, denn meist ist dieser Schritt nicht mehr rückgängig zu machen und man bekommt nicht die Möglichkeit im physischen Körper weiterzuleben, wie es hier Angie Fenimore geschah. Was ist, wenn alles ganz anders ist, als man sich das vorgestellt hatte.
Und es kam alles ganz anders - ganz anders - als es sich Angie Fenimore vorstellte:
Schließlich bekam ich das Gefühl, daß es geschah. Ich konnte nicht mehr stehen oder mich aufsetzen. Meine Augen fielen auf die Uhr. Es war elf Uhr vormittags. Eine warme, helle Sonne schimmerte durch die dünnen Vorhänge und glänzte auf den weißen Fußbodenkacheln. Das wird das letzte sein, was ich vom Leben sehe, dachte ich. Meine Nase und meine Lippen fühlten sich taub an, und diese Empfindung dehnte sich schnell auf meine schlaffen Arme und Beine aus. Meine Zunge war dick und trocken, als ich zu schlucken versuchte. Ich hatte das Gefühl wegzugehen - mich von meinem schweren, trägen Körper zu lösen.

Kapitel 12
Ich ging in eine andere Sphäre über. Ich spürte, wie eine ungeheure Energie mich grollend umhüllte, als läge ich im Düsentriebwerk einer startenden Boeing 747. Ich lag bewegungslos unter meiner dünnen roten Decke. Mit einem immer lauter werdenden Summen, das zu einem Pfeifen anstieg, als die Schwingung des Todes mich tiefer zog, löste meine Seele sich vom Körper. Ich sah etwas, das dem Inneren meiner Augenlider glich. Pfirsichfarbenes Licht milderte das intensive Gefühl des Sinkens bzw. Stürzens.
Eine krankhafte Faszination lockte mich, meinen Tod zu beobachten; ich hob meine schweren Augenlider und spürte sofort, wie eine riesige Energiewelle mich in meinen Körper zurückzog. Ich sah die dekorativen Kissen, die um mich herum auf der Couch verstreut waren. Flache schnelle Atemzüge und das Hämmern meines Herzens sagten mir, daß ich noch nicht ganz angekommen war. Na gut, dachte ich, ich würde es noch einmal versuchen müssen.
Ich schloß die Augen und wünschte den Tod herbei. Sofort sah ich etwas, das ich für das strahlende, durch meine Augenlider dringende Morgenlicht hielt, aber ich bemerkte, daß sich diesmal hellrote Linien von dem pfirsichgelben Hintergrund abhoben, die wie Dutzende winziger Straßen auf einer Landkarte durcheinanderwuselten. Gleichzeitig bewegte ich mich durch einen weichen warmen Kokon auf einen schwarzen Fleck am Ende zu. Allmählich dämmerte mir, daß ich da irgendeine Schleimhaut sehen mußte; es konnte unmöglich das Innere meiner Augenlider sein, denn ich hatte das Gefühl, als wäre mein ganzer Körper von einer warmen, angenehmen Hülle umgeben, die mir mehr Frieden und Geborgenheit vermittelte, als ich je erlebt hatte. War das der Tod?
Ich hatte immer noch den Wunsch, mich zu sehen, also öffnete ich wieder die Augen; auch diesmal wurde ich abrupt in meinen Körper zurückgesogen. Ich lag immer noch als zusammengekrümmtes Menschenbündel auf der Couch. Jetzt wußte ich, daß ich diesen Übergang vom Leben zum Tod irgendwie steuern konnte. Obwohl ich in materieller Hinsicht alles getan hatte, was zum Sterben notwendig war, hatte ich immer noch die Wahl.
Ich kniff die Augen fest zusammen und richtete meine Gedanken und meinen Willen auf den Tod. Ich war zufrieden mit mir, sogar irgendwie ausgelassen
- ich konnte kaum glauben, daß ich den Mut hatte, so etwas zu tun. Das bebende Tosen nahm mich auf, und wieder wurde ich in den warmen Tunnel gesogen. Seine goldenen Wände, die mit Blutgefäßen und Kapillaren ausgekleidet waren, preßten mich zusammen, während ich mich langsam durch sie hindurchbewegte. Die Erfahrung fühlte sich vertraut an, und ich wußte, daß ich mich mein ganzes Leben lang danach gesehnt hatte, solche Liebe zu spüren.
Plötzlich empfand ich den Druck der Kontraktionen in meinem eigenen Bauch. Obwohl ich selbst zwei Kinder geboren habe, wurde mir erst später klar, was der Druck bedeutete. Ich erlebte meine eigene Geburt, meine erste Erinnerung. Ich sah sie als Beteiligte und als Beobachter. Ich spürte die Körperwärme und den Druck, der vom Inneren des Kanals ausging, und auch die Kontraktionen meiner Mutter
- so, wie sie dieses freudige Ereignis vor siebenundzwanzig Jahren erlebt hatte. Als wäre ich sie, empfand ich die Ehrfurcht meiner Mutter, ihren Respekt vor dem, was da geschah. Ich spürte auch meine eigene Aufregung, meine unschuldige Liebe als neugeborenes Baby, das zum allererstenmal die Welt betritt. Es tat nicht weh. Ich erlebte nur die berauschende Euphorie der Liebe, eine wundervolle Gelassenheit, die mit wohltuender Entschlossenheit gemischt war. Meine Mutter wollte mich, und ich wollte zu ihr.
Plötzlich wurde ich heftig und schnell aus dem Tunnel ausgestoßen. Sobald ich draußen war, wurde ich gewiegt; mein Kopf ruhte fest und sicher in einer Hand. Ich sah zu einer Frau auf, aber da ich die Gefühle der Frau und des Babys hatte, wußte ich nicht genau, wer von den beiden ich nun war. Vom Standpunkt des Babys aus wußte ich nicht, wer die junge Frau war, aber in ihrer Gegenwart fühlte ich mich geborgen. Aus der Sicht der Frau erkannte ich das Gefühl wieder, das ich so oft gehabt hatte, wenn ich meine Jungen im Arm gehalten und verwundert ihre zarten Gesichtszüge studiert hatte, so daß gegenseitige Abhängigkeit und Gewißheit sich festigten und das einzigartige Band zwischen Mutter und Kind schufen. Und als außenstehender Dritter dachte ich, daß diese junge Frau ich sein mußte. Sie hatte meine Nase und mein Lächeln.
Die Frau sprach mit jemandem, den ich nicht sehen konnte, aber die Worte drangen wie aus weiter Ferne zu mir und klangen unsinnig. Mir genügte es, nur gehalten zu werden, und es störte mich nicht, daß ich den Sinn der Worte nicht erfassen konnte. Ich erkannte jedoch, daß das, was ich hörte, ein freundlicher Austausch war; ansonsten hatten die Worte für mich keine Bedeutung. Ich erwartete auch gar nicht, das verworrene Gerede der Erwachsenen zu verstehen. Mir waren nur der Friede und die Geborgenheit wichtig, die ich empfand.
Dann lächelte die Frau zu mir herunter. Ich bemerkte, daß ihr braunes Haar glatt war, nicht wellig wie meins, und auch kürzer als mein Haat Ich erkannte, daß dies meine Mutter vor fast drei Jahrzehnten war. Ich war bezaubert von ihr und zugleich ein Teil von ihL Mir schien überhaupt nicht bewußt zu sein, daß ich einen eigenen Körper, ein eigenes Leben hatte. Ich war mir über meine elementarsten, reinen Empfindungen im klaren, aber ich empfand mich nicht als eigenständiges, vollständiges Individuum. Ich war an diese Frau gebunden, die für mich da war. Sie war meine Identität.
Erst nach langer Zeit wurde mir die Bedeutung der Tatsache klar, daß diese beiden ersten Erinnerungen - an meine Geburt und an das Wiegen -
die längsten, detailliertesten und emotionalsten von allen waren, die mir gezeigt wurden. Durch sie erkannte ich, daß meine Mutter mich genauso geliebt hatte, wie ich meine Jungen liebte. Ich hatte mir das nie träumen lassen - und sah sie so in einem ganz anderen Licht; ich erkannte, daß das, was sie für uns getan hatte, das Beste war, was sie tun konnte.
Die Aufmerksamkeit meiner Mutter wurde abgelenkt, und jetzt bemerkte ich vor mir so etwas wie eine große Filmleinwand. Ich wurde in eine »dreidimensionale Diashow« über mein Leben hineingezogen, die chronologisch vor mir ablief, während ich jeden Teil von ihr aus der Sicht und mit dem Verständnis aller Beteiligten erlebte. Ich wußte genau, was jeder Mensch, der je mit mir zu tun hatte, fühlte. Vor allem jedoch wurde mir mit lebendigen Details genau gezeigt, wie meine Kindheit wirklich gewesen war. Die Bilder flogen an mir vorbei, aber ich nahm mit Leichtigkeit jeden Augenblick auf; jedes Bild löste eine Flut von Erinnerungen aus. Das meinten die Leute also, wenn sie sagten:
»Mein Leben lief blitzartig vor mir ab.«
Als die einzelnen Bilder vor mir aufleuchteten, erfüllten sie mich, und ich tauchte in sie ein. Vor mir war ein Geburtstagskuchen auf einer schneeweiß beschichteten Tischplatte. Gold- und Silberglitter glänzte auf dem glatten Überzug und brachte eine Flut von Erinnerungen an Mahlzeiten mit sich, die ich in dieser Küche gegessen hatte. Ich roch die brennenden Kerzen, die stolz auf dem Kuchen standen und verkündeten, daß mein fünfter Geburtstag gekommen wat Ich war aufgeregt und zappelig. Mein steifes Kleid verschob sich, wenn ich mich bewegte, und ich konnte seine Farbe spüren
- Rot. Meine Füße, die in kurzen weißen Söckchen und glänzend schwarzen Schuhen steckten, baumelten über den Rand des kalten Stuhls, und die Rückseite meiner dünnen Beinchen klebten auf dem Vinylsitz. Ich schob sie hin und her und zog mich hoch, so daß meine Beine den Stuhl abschilferten. Die Szene schien sehr vertraut und real, aber ich hatte das Gefühl, als hätte ich sie noch nie erlebt. Ich wußte nicht, was als nächstes passieren würde, und ich konnte die Ereignisse auch nicht ändern.
Ich saß am Kopfende des Tisches und hatte all meine Freundinnen und Freunde aus der Nachbarschaft um mich. Geburtstagsteller und Plastikgabeln waren ordentlich angeordnet. Meine beste Freundin, Mary, die nebenan wohnte und zwei Jahre älter war als ich, erschien mir sehr reif. Ihre blonden Locken hüpften auf ihren Schultern auf und ab, als sie den Kopf drehte, um die anderen Kinder mit ihren Partyhüten anzusehen. Wir waren in heller Aufregung wegen dieser Hüte, die unter dem Kinn mit einem dünnen Gummiband befestigt waren, und wir kicherten und zeigten mit dem Finger aufeinander. Dies waren Dinge und Menschen, die ich völlig vergessen hatte.
Meine Mutter, die an der anderen Seite des Tisches stand, war in meiner Erinnerung allwissend und voller Liebe. Ihre schlanke, so vollkommene, so schöne Gestalt bewegte sich mit eleganter Anmut, als sie mit Marys Mutter lachte und schwatzte. Ihre Arme waren jetzt verschränkt, aber ich wußte, daß sie jede Aufgabe fehlerlos erledigen konnte. Ihr breites Lächeln zeigte mir, daß dies ein wichtiger Tag war und ich im Mittelpunkt von alldem stand.
Sie unterbrach ihre Unterhaltung, um mich sanft zum nächsten Schritt der richtigen Geburtstagsetikette zu führen. »Jetzt kannst du dir etwas wünschen, Angie.
«Die Stimmen glücklicher Kinder tanzten in der Luft. Die Schuhe der Mütter klapperten und schlurften über die glänzend weißen Bodenfliesen, wenn ihre aufmerksamen, achtunggebietenden Gestalten die Bedürfnisse der quirligen Partygäste erfüllten. Der Kuchen war so herrlich, so riesig, die Kerzen auf ihm alle angezündet. Meine Aufgabe - sie auszublasen - war so wichtig.
Ich sah die Gesichter meiner Freundinnen so deutlich, daß ich meinte, sie berühren zu können. Marys Schwester Susie hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt und drückte ihre Finger gegen die Unterlippe. Mit offensichtlicher Schüchternheit wartete sie geduldig auf ihr Stück Kuchen, während die anderen Kinder das ihnen zustehende Stück lautstark reklamierten. Weil es mein Geburtstag war, bekam ich das erste Stück, das ich mir außerdem auch noch aussuchen durfte. Ich fühlte mich so wichtig. Es machte solchen Spaß. Ich war klein und schnell, voller Energie.
Plötzlich saßen wir in einem Kreis im Wohnzimmer. Wie ein stilles Gespenst, das unentdeckt zusieht, sah ich mich, wie ich mich mit meiner kleinen Schwester Toni darum zankte, wer wo sitzen sollte. Ich wollte meine Lieblingsfreundinnen in meiner Nähe haben, und weil es mein Geburtstag war, dachte ich, daß Toni in dieser Angelegenheit nichts zu sagen hätte. Der Streit war schnell beigelegt. Ich beobachtete erstaunt, daß die Erwachsenen sich unterhielten und die Kinder sich mit dem Auspacken der Geschenke beschäftigten. Vor dem Fenster stand der wollflockige künstliche Weihnachtsbaum, den Vater jedes Jahr hervorholte. Einen Augenblick lang dachte ich, ich wäre zu einem späteren Ereignis gesprungen, aber dann fiel mir ein, daß ich Anfang Januar Geburtstag habe und wir den Baum bis lange nach Weihnachten stehenließen. Rote, grüne und gelbe Glaskugeln hingen an seinen flauschig-weichen, weißen Ästen. Ich war entzückt, daß jede Kugel mir mein Gesicht in ihrer Farbe widerspiegelte. Auf den unteren Ästen des Baums lagen ein paar silberne Cellophannadeln. Toni und ich liebten es, unter den Baum zu kriechen und die Flocken abzuzwicken, die sich zwischen den Fingern so gut anfühlten. Mama ärgerte sich immer darüber, aber das Gefühl war so befriedigend, daß wir nicht widerstehen konnten.
Unser neues Haus war einfach und tadellos. Das große Panoramafenster, vor dem der Weihnachtsbaum stand, ließ die Sonne von Arizona herein, die alles mit einem weißen Glühen überzog. Geliebte und vertraute Gegenstände kamen ins Blickfeld: der kratzige grüne Teppich, das beigefarbene Vinylsofa, meine Lumpenpuppe Ann und natürlich meine rote Decke, die damals noch dick, neu und hell war. Die flauschige Decke begleitete mich überallhin. Ich liebte sie so, daß ich die kleinen Fussel absammelte und aufaß, denn es genügte mir nicht, die Decke nur um mich zu haben
-ich wollte sie zu einem Teil von mir machen.
Ich erlebte meine ganze Kindheit noch einmal, und das aus der Sicht aller Beteiligten, auch meines erwachsenen Selbst. Als unbeteiligter Dritter sah ich, daß unser gesamtes Mobiliar
- die orangefarbenen Sessel mit den dünnen Beinen und der schlichte Couchtisch mit den abgerundeten Ecken und den dürftigen Verzierungen - zwar neu, aber unverkennbar aus den sechziger Jahren war. Einfachheit und Funktionalität bestimmten die Ausstattung in unserem Haus eher als Glanz und Glitter. Über dem breiten Sofa befand sich das sorgfältig ausgeführte, goldgerahmte Bild von stürmischen Wellen, die gegen einen felsigen Strand prallen. Es hing leicht schief.
Gleichzeitig sah ich alles durch meine Augen als kleines Mädchen, das detaillierte Pläne ausheckte, um »So tun, als ob« zu spielen und sich -
was verboten war - hinter den Vorhängen zu verstecken. Der Couchtisch gab den Tanzboden für meine Puppen ab, und die Polstersessel waren Barbie-Villen mit Dachterrasse. Schuhe waren Puppenautos. Es war eine Welt magischer Möglichkeiten.
Von außen sah ich mich, wie ich ein Geschenk auspackte. Gleichzeitig war ich in meinem kleinen Körper und spürte, wie das Papier riß, als ich es auftrennte, um zu sehen, was drin war. Es war ein Malblock, der groß und unhandlich erschien, als ich ihn aus den riesigen Papierbögen nestelte. Es war die reine Freude. Ich wollte alle Geschenke so schnell wie möglich aufmachen. Ich war überrascht, wie wenig Anstrengung es kostete herumzuwühlen und wie schnell meine Aufmerksamkeit sich verlagerte.
Wieder verging die Zeit wie im Flug, und plötzlich saß ich auf der Anrichte in der Küche und machte Toast. Es war ein bewölkter Morgen. Sanftes Licht lag auf den scharfen Kanten der Anrichte und ließ sie runder wirken. Meine Mutter stand in der Küche an der Spüle und wusch ab. Ich konnte hören, wie das Wasser gegen die Spüle trommelte. Ich dachte an den Waschlappen, der über dem Wasserhahn hing. Er war ekelhaft, und ich haßte es, wenn mein Gesicht mit ihm abgewischt wurde. Die Hände meiner Mutter glitten von dem fließenden Wasser zu dem Handtuch, und ich bewunderte die Leichtigkeit, mit der sie ihre Aufgaben in der Küche erledigte. Sie war perfekt, und ich war stolz, ihre Tochter zu sein.
Sie sang, wie immer. Ihre sanfte Stimme tröstete und beschützte, aber das Lied
- eine alte vertraute Volks-weise - war traurig und löste in mir ein Unbehagen aus, das Gefühl, daß Schlimmes heraufzog. Ich wollte weinen.
Jetzt war es ein anderer heißer Tag. Die gläserne Schiebetür war offen, und im Hinterhof eines Nachbarn brummte ein Rasenmäher. Vater lag auf dem Sofa, das meine Schwester und ich das »Küchensofa« nannten - es stand im Eßbereich des Raums an der Wand -
und las die Zeitung. Ich liebte das Wort davenport, und manchmal bezeichneten wir die Couch so. Wir saßen dort, wenn wir fernsehen wollten. Vater hatte die Beine übereinandergeschlagen, und zwischen seinen gespitzten Lippen hing eine brennende Zigarette. Er hatte den Kopf leicht zurückgelegt, und die Rauchwolken bildeten manchmal Ringe in der Luft. Er war geduldig und lieb, denn er tolerierte meine energiegeladene Gesellschaft. Ich sprang von seinem Schoß auf die piniengrünen Segeltuchkissen und dann auf ihn zurück. Die Haut in seinem Gesicht fühlte sich weich und wie Sandpapier an, als ich meine kleinen Hände gegen seine Wangen preßte. Ich liebte es, ihm nahe zu sein. Die »Küchencouch« war schmal und unbequem, und ich konnte das Kissen leicht mit dem Fuß verschieben.
Es war toll. Das »Erinnern« aus meiner unmittelbaren Sicht als Kind war für mich so etwas wie eine Offenbarung. Als Erwachsene hatte ich nur einzelne, undifferenzierte Erinnerungen an meine Kindheit. Aber als mein Leben sich wie in einem Hologramm weiter vor mir abspulte, erkannte ich, daß ich ganz wichtige Gefühle und Ereignisse meiner Vergangenheit vergessen hatte. Als kleines Kind hatte ich mich zu Hause und in mir geborgen gefühlt. Ich sah mich mit reinen, akzeptierenden Augen. Meine Gefühle waren klar und stark, nicht wirr und widersprüchlich. Mein Selbstbild war eingebettet in den Stolz und die Liebe von Eltern, die in mich vernarrt waren -, genau das Gegenteil von dem, was ich geglaubt hatte. Vor allem die Anwesenheit meiner Mutter gab mir Wärme und Glück. In den meisten frühen Erinnerungen war sie die zentrale Gestalt.
Als meine dunkleren Jahre näher kamen, wurden die Bilder weniger detailliert. Sie hatten dieselbe elektrische Ladung, aber ich durchlief sie sehr schnell; ich sah sie mit mehr Verwirrung und Distanz und ohne völlig in sie einzutauchen, ohne die starken Gefühle, die die früheren Erinnerungen begleitet hatten. Ich sah Einzelbilder meines Lebens aus verschiedenen Zeiten, wobei manche Ereignisse anscheinend wichtiger waren als andere, denn ich durchlief sie langsamer. Viele Perioden meines Erwachsenenlebens
- die Abschnitte, mit denen ich Frieden geschlossen hatte, indem ich verziehen hatte oder mir verziehen worden war - wurden schnell abgehakt oder fehlten ganz; ich wußte jedoch, daß ich mich an sie erinnern oder mich auf sie beziehen konnte, wenn ich wollte. Es wurde mir nicht erlaubt, bei irgendeiner der späteren Erinnerungen zu verweilen, weshalb es so schien, als ob dieser Teil meines Lebens nicht nur für mich vorgeführt wurde. Und tatsächlich wurde mir bewußt, daß ich mir mein Leben nicht allein ansah.
Da war ganz eindeutig eine Präsenz bei mir, obwohl ich niemanden sah. Ich wußte, daß die Präsenz männlich war und mein Leben nicht beurteilte -
weder Kritik noch Mitgefühl gingen von ihr aus. Die einzige Empfindung, die ich hatte, war: »So ist es. Dieses Leben hast du gelebt.«
Je näher ich dem Ende meines Lebens kam, desto schneller flogen die Bilder an mir vorüber. Es war unglaublich! Im Nu hatte ich die ganzen siebenundzwanzig Jahre von meiner Geburt bis zu dem Augenblick erlebt, in dem ich sterbend auf der Couch lag und in den warmen Tunnel ging. Dann hörte die schnelle Bewegung, mit der mein Leben an mir vorbei- und durch mich hindurchgerast war, abrupt auf.
Und jetzt?

Kapitel 13
JoAnne hatte mir den Tod als Umarmung beschrieben, als warme, friedvolle Umhüllung, aber als ich hinüberging, war davon nichts da. Sie hatte mir von dem glänzenden weißen Licht erzählt, das sie umgab, und von den vertrauten Wesen, die sie willkommen hießen. Wegen dieser tröstlichen Zusammenkünfte und des Gefühis, in die Herrlichkeit von Gottes Liebe - sein Licht - einzutauchen, kehrten sie und - wie ich seitdem erfahren habe - auch viele andere nur sehr ungern in ihr altes, vergleichsweise leeres und hartes Leben auf Erden zurück. Aber für mich gab es kein helles Strahlen, keine Arme, die darauf warteten, mich in die Gegenwart Gottes zu führen. Statt dessen war alles schwarz, als schwebte ich im Weltall und kein Stern würde leuchten.
Ich erwog die Möglichkeit, daß meine Großeltern und Onkel Sam in die Hölle gekommen waren und mich nicht besuchen durften, aber meine Cousine Garne konnte unmöglich an einem so schrecklichen Ort sein. Ihr sanftes Wesen, ihr Einverständnis mit ihrem kurzen leidvollen Leben hatten ihr sicher einen Platz in der Gegenwart Gottes eingebracht. Also starrte ich in die dichte Dunkelheit und erwartete, ihre Gestalt auftauchen zu sehen. Ich wartete vergeblich.
Wo war ich? Um mich herum war alles schwarz. Meine Augen schienen sich anzupassen, und ich konnte klar sehen, obwohl es kein Licht gab. Ich war mir bewußt, daß ich auf etwas stand, was sich wie fester Boden anfiihlte, aber da war nichts. Die Dunkelheit erstreckte sich in alle Richtungen und schien endlos, aber sie war nicht nur schwarz, sie war auch leer, ohne Licht. Ich wußte, daß sie ihr eigenes Leben und ihren eigenen Zweck hatte. Sie umgab mich vollkommen.
Ich war immer noch aufgeregt darüber, daß ich so weit gekommen war. Der Tod war wirklich ein Abenteuer. Ich drehte den Kopf, um die dichte Finsternis zu erforschen, und sah rechts von mir Schulter an Schulter eine Handvoll anderer stehen
- alles Teenager. »Oh, wir müssen die Selbstmorde sein.« Lachend öffnete ich den Mund, aber bevor ich die Worte formen konnte, purzelten sie heraus. Ich wußte nicht genau, ob ich die Worte gedacht oder versucht hatte, sie zu sagen, aber sie waren hörbar, ohne daß ich meine Lippen zu bewegen brauchte. Dann wußte ich nicht, ob die anderen mich gehört hatten, bis der Junge neben mir reagierte.
Er war groß und schlank und hatte wildes schwarzes Haar, das unnatürlich aussah, so, als ob er es gefärbt hätte. Die Augen waren dick mit schwarzem Eyeliner umrandet. Sein Aussehen erstaunte mich, denn ich nahm an, Make-up und Frisur wären irdische Dinge, die eine verstorbene Seele zusammen mit dem physischen Körper zurücklassen würde. Er war schwarz gekleidet, genauso wie die anderen. Wegen des schwarzen T-Shirts, dessen Ärmel er aufgerollt hatte, damit die Oberarme sichtbar waren, der Lederweste, den schwarzen Denim-Jeans und den Motorradstiefeln nahm ich an, daß wir denselben Musikgeschmack hatten. Er sprach kein Wort mit mir. Er sah langsam auf mich herunter und drehte sich dann wieder nach vorn. Sein Gesicht war absolut ausdruckslos, seine Augen ohne Wärme oder Intelligenz. In gedankenloser Dumpfheit verharrten er und die anderen im Niemandsland der Dunkelheit.
Am anderen Ende der Reihe war die zweite ein Mädchen, das noch nicht zwanzig zu sein schien. Das blonde Haar hing ihr glatt und stumpf auf die schmalen Schultern. Ich bekam das Gefühl, daß wir die einzigen Frauen in der Gruppe waren. Und mir wurde klar, daß das Empfinden
- das, was manche Intuition oder sechsten Sinn nennen - die bevorzugte Methode der Informationsübermittlung an diesem Ort war, an dem unausgesprochene Gedanken hörbar wurden. Als ich mein neues Talent des »Spürens/Empfindens« übte, ahnte ich dunkel, daß ich mich an eine lange vergessene, natürliche, vertraute Fertigkeit erinnerte, die durch Worte er- bzw. zersetzt worden war; ich lernte schnell, diese neue Methode des Wissenserwerbs zu nutzen. Flüchtig empfand ich Trauer für das blonde Mädchen, denn ich wußte, wie sensibel Teenager sind und wie überwältigend die Probleme in diesen schwierigen Jahren erscheinen. Was auch immer sie dazu getrieben haben mochte, sich umzubringen - es war wahrscheinlich vorübergehend und lösbar. In ihrem kurzen Leben konnte es kaum etwas gegeben haben, das so schlimm war, daß es einen Selbstmord rechtfertigen würde.
Aber sie stellte keinen Kontakt zu mir heL Ihr leerer, ins Nichts gerichteter Blick wurde durch meine Gedanken über sie nicht abgelenkt. Sie war genauso wie die anderen, sie starrten verständnislos vor sich hin, ohne sich dafür zu interessieren, wo wir waren, ohne Neugierde. Sie waren tot, und ich genauso.
Dann kam ein Wusch. Plötzlich, als ob wir darauf gewartet hätten, daß eine Art Auswahlverfahren stattfindet, wurde ich von einer unsichtbaren, unbestimmten Macht weiter in die Dunkelheit hineingesogen. Ich ließ die Teenager hinter mir und flog aufrecht mit Überlichtgeschwindigkeit, wie ein Komet, der aus dem Nichts herausschießt. Ich spürte, daß ich mich schneller bewegte, als irgendein von Menschenhand fabriziertes Luftfahrzeug je fliegen könnte, empfand aber nicht die körperlichen Auswirkungen des Fliegens oder den Druck der Schwerkraft. Ich hatte weder ein Gefühl für die Temperatur, für die Kälte, die man im Weltraum erwartet, noch eine Möglichkeit, die Zeit einzuschätzen. Wahrscheinlich flog ich nur einen Sekundenbruchteil lang.
Aber wie weit war ich geflogen? Es konnte eine lange Strecke gewesen sein
- Tausende von Kilometern vielleicht oder nur die Länge eines Fußballfelds, ich konnte es nicht beurteilen. Ich merkte nicht, daß das Trägheitsgesetz wirkte, daß ich langsamer wurde, als ich mich dem »Landeplatz« näherte, den ich erst sah, als ich unmittelbar über ihm war. Im letzten Sekundenbruchteil, bevor meine Füße festen Boden zu berühren schienen, bekam ich ganz blitzartig einen flüchtigen Anblick von meinem Los - Menschenmassen, etwas, das aussah wie Tausende von Menschen auf Tausenden anderer Menschen, die sich unter mir drängten.
Ich landete am Rand einer dämmrigen Ebene und schwebte in der Dunkelheit, die sich erstreckte, so weit ich seheu konnte. Der Boden war fest, aber in schwarzen Nebel gehüllt, der um meine Füße waberte und auch die dichte, bis zur Taille reichende Barriere bildete, die mich festhielt. Der Ort war mit einer knisternden Energie gefüllt, die mich hyperwach und sensibel machte. Wieder nahm ich meine Umgebung nicht durch körperliche Empfindungen wahr, sondern durch eine Art telepathischer Intuition. Der dichte, in sich feine Nebel besaß eine Masse
- er schien aus Molekülen intensiver Dunkelheit zu bestehen - und konnte berührt und geformt werden. Sie war lebendig, diese Finsternis, und besaß eine Art von Intelligenz, die absolut negativ, ja böse war. Sie saugte an mir, zwang mich zu reagieren und verwandelte meine Reaktion dann in Angst und Grauen. Ich hatte in meinem Leben Schmerzen und Verzweiflung ertragen, die so groß waren, daß ich kaum noch handlungsfähig war, aber die drückende Qual dieser Beziehungslosigkeit war unvorstellbar.
Was war dieser Ort?
Ich wußte, daß ich in einem Bereich der Hölle war, aber dies war nicht die typische »Feuer-und-Schwefel«-Hölle, von der ich als kleines Kind gehört hatte. In meinen Kopf schob sich, geflüstert, das Wort »Fegefeuer«.
Ein paar einfache Einrichtungsgegenstände standen herum. Ein uralter Toilettentisch mit einem ovalen Spiegel stand rechts von mir. Seine Oberfläche war dunkel und von der Zeit abgenutzt; auf jeder Seite hatte er zwei kleine Schubladen, die geschlossen waren. Es war merkwürdig, aber auch ohne die Schubladen zu öffnen, konnte ich sehen, daß sie leer waren. Hinter mir stand ein mit Scheflack behandelter Holz-stuhl; Sitz und Rückenlehne waren mit einem schweren Metalirahmen und Metallfüßen verschraubt, wie die Stühle, auf denen ich in der Grundschule gesessen hatte. Der Stuhl schien immer wieder aus dem Nebel aufzutauchen und dann in ihn zurückzusinken
- wie ein Gespenst, das immer da, aber nur manchmal zu sehen ist. Ich wußte nicht, ob ich den Stuhl sehen konnte, wenn er wollte oder wenn ich mich anstrengte. Ich spürte, daß die molekulare Zusammensetzung von allem, was mich umgab - Möbel und Boden -weniger dicht war als auf der Erde, so daß die Dinge hier weniger solide erschienen, obwohl sie viel realer, ja unzerstörbar waren. Alles war mit einer bestimmten Absicht hier plaziert worden. Der Stuhl hatte meinem Gefühl nach nichts mit meiner Situation zu tun, aber der Toilettentisch war ganz bestimmt für mich dorthin gestellt worden. Erst Jahre später erkannte ich seine Bedeutung.
Frauen und Männer jeden Alters, aber keine Kinder, standen, kauerten oder gingen herum. Manche redeten leise mit sich selbst. Alle, die ich sah, hatten Gesichtszüge, wie ich sie von Menschen aus dem Kaukasus kannte, aber auch sichtlich etwas Finsteres an sich, das kein äußeres Element war und etwa von ihrer Hautfarbe stammte. Das Finstere kam von innen und strahlte in einer Aura von ihnen ab, die ich spüren konnte. Sie waren völlig mit sich selbst beschäftigt und zu sehr in ihr eigenes Elend vertieft, als daß sie irgendeinen intellektuellen oder emotionalen Austausch begonnen hätten. Sie hatten die Fähigkeit, Kontakt zueinander herzustellen, aber die Finsternis behinderte sie.
Allmählich wurde ich mir eines kaleidoskopartigen Wirbels von Stimmen bewußt, und ich erkannte, daß die Kommunikation in diesem Reich mit Hilfe von Gedanken stattfand. Um mich herum hörte ich das Summen der Gedanken, als wäre ich in einem überfüllten, abgedunkelten Kinosaal und würde geflüsterte Gespräche auffangen. Es war schwierig, einzelne Gedanken zu unterscheiden, aber vor allem die einer Frau hoben sich ab. Sie war mittleren Alters, hatte eine hoch aufgebauschte Frisur und rechtfertigte sich immer wieder; es war, als würde sie mit den Geistern ihrer Vergangenheit reden und versuchen, einen Schuldigen zu finden. Ich hatte den Eindruck, daß sie schon seit Jahren dort war und immer wieder dieselben dumpfen, sinnlosen Worte wiederholte, die niemanden von uns interessierten. Ich hatte ganz klar den Eindruck, daß sie Selbstmord begangen hatte.
Ich spürte, daß ich nicht mehr ganz Frau war. Ich war »innerlich« derselbe Mensch, der ich vorher gewesen war
- mein morbider Sinn für Humor, meine Neugierde, meine Persönlichkeit, meine Denk- und Gefühlsstruktur waren geblieben, und ich war mir auch bewußt, eine Frau zu sein -‚ aber meine Gestalt war irgendwie reduziert, nicht kleiner, aber weniger kompliziert gemacht worden. Ich dachte: Wenn ich an mir herunterschaue, werde ich feststellen, daß ich keine Brüste mehr habe. Der Abbau der Geschlechtlichkeit schien auch für die anderen um mich herum zu gelten. Jeder, den ich sah, trug schmutzigweiße Kleider. Die mancher Menschen waren stark verschmutzt, während die anderer nur ein paar Flecken aufwiesen. Ich weiß nicht genau, was ich trug. Ich ahnte, daß der Morgenmantel, den ich anhatte, als ich mich zum Sterben hinlegte, durch dunkle Kleidung ersetzt worden war, möglicherweise ein schwarzes Sweatshirt, das ich in diesem Winter oft getragen hatte. Es war fast so etwas wie das Kennzeichen meiner Depression geworden.
Neben mir saß ein Mann, der ungefähr sechzig Jahre alt zu sein schien. Sein Haar war grau, und irgendwie wußte ich, daß er blaue Augen hatte, obwohl hier alles schwarz und in verschiedenen Schattierungen von Grau erschien. Seine Augen waren völlig verständnislos. Als Bild des Jammers kauerte er auf dem Boden, in schmutzigweiße Gewänder gehüllt, und strahlte rein gar nichts aus, noch nicht einmal Selbstmitleid. Ich hatte das Gefühl, als ob er alles aufgenommen hätte, was es hier zu wissen gab, und beschlossen hätte, mit dem Denken aufzuhören. Er war völlig ausgezehrt; er wartete einfach. Ich wußte, daß seine Seele hier schon endlos lange vor sich hin dämmerte.
Plötzlich wurde mir klar, daß Termine, Uhren und eine feste Zeiteinteilung auf die starre irdische Welt beschränkt sind. In meinem finsteren Gefängnis konnte ein Tag genausogut tausend Tage wie tausend Jahre währen. Mir fiel ein, daß wir in der ganzen zivilisierten Welt auf die Sekunde genau wissen, wieviel Uhr es an irgendeinem Ort auf der Erde ist, und doch Menschen Hungers sterben lassen
- obwohl wir die Mittel haben, dies zu verhindern. Seltsam, daß die Zeit uns so wichtig ist.
Ich war mir sicher, daß dieser Mann sich genauso selbst umgebracht hatte wie die Frau mittleren Alters. Seine Kleidung deutete darauf hin, daß er zur Zeit der Erdenmission Jesu Christi gelebt haben könnte. Ich fragte mich, ob er Judas Ischariot war, der den Heiland verraten und sich dann aufgehängt hatte. Das Gefühl, möglicherweise neben Judas Ischariot zu stehen, kam von mir und nicht von dem Mann. Ich dachte, ich müßte verlegen sein, weil ich diese Dinge in seiner Anwesenheit dachte, da er mich doch »hören« konnte. Auch wenn ich voll mit meinen eigenen Problemen beschäftigt gewesen war, hatte ich immer auf die Gefühle anderer Rücksicht genommen. Aber jetzt waren sie mir egal. Ich hatte nicht den Wunsch, ihm oder irgend jemand anderem gegenüber hilfsbereit oder auch nur höflich zu sein.
Als mein Verstand nach mehr Informationen verlangte, empfand ich eine riesige Enttäuschung. Ich schien meine gesamte Gehirnkapazität zu nutzen. Ich konnte alles um mich herum spüren und wissen, indem ich einfach in meinem Kopf eine Frage stellte oder in irgendeine Richtung blickte. Ich konnte unendlich viel erfahren, aber ich hatte keine Bücher, kein Fernsehen, keine Liebe, keine Privatsphäre, keinen Schlaf, keine Freunde, kein Licht, kein Wachstum, kein Glück und keinen Trost
- ich brauchte kein Wissen zu erwerben, denn ich hatte keine Möglichkeit, es anzuwenden.
Aber noch schlimmer war mein wachsendes Gefühl, ganz allein zu sein. Wenn man die Wut eines Menschen erlebt, ist das zwar unangenehm, aber doch eine Form spürbarer Verbundenheit. In dieser leeren Welt hingegen, in der kein Kontakt möglich war, herrschte eine entsetzliche Einsamkeit.
Ich sehnte mich nach meinen Kindern und wollte nach Hause laufen, aber solche Gedanken schienen mir zwecklos. Die Finsternis hatte mich vereinnahmt, und ich wurde bald wie die anderen hier. Und ich würde unfaßbar lange hier bleiben. Dies war der Ort, an dem die Hoffnung erstarb.

Kapitel 14
Dann hörte ich die Stimme einer ehrfurchtgebietenden Macht; sie war nicht laut, aber sie fegte über mich hinweg wie eine riesige Klangwelle. Die Stimme enthielt eine so wilde Wut, daß sie mit einem Wort das Universum zerstören konnte, aber auch eine so starke und unerschütterliche Liebe, daß sie wie die Sonne der Erde Leben zu geben vermochte. Ich duckte mich angesichts ihrer Gewalt und ihrer quälenden Worte: »Ist es das, was du wirklich willst?« Die erhabene Stimme ging von einem Lichtpunkt aus, der bei jedem Donnerwort größer wurde, bis er wie eine strahlende Sonne hinter der schwarzen Nebelwand hing, die mein Gefängnis bildete. Obwohl das Licht sehr viel strahlender war als die Sonne, beruhigte sein tiefes, rein weißes Leuchten meine Augen. Ich ahnte, daß es die Grenze zur Finsternis nicht überqueren konnte (oder vielleicht nicht wollte - da war ich mir nicht sicher). Und ich wußte mit absoluter Gewißheit, daß ich in der Gegenwart Gottes war.
In dem Strahlen sah ich jetzt die Gestalt eines Mannes, der in wogende, atemberaubend weiße Gewänder gekleidet war. Perlenschimmerndes, prachtvolles Haar floß von einem edlen, gerundeten Nacken auf seine Schultern. Er war ein Lichtwesen im wahrsten Sinne des Wortes: Er strahlte nicht nur Licht aus oder wurde von ihm von innen erhellt, sondern schien aus dem Licht zu bestehen. Es war ein Licht, das Substanz und Dimension besaß, die wunderschönste, herrlichste Substanz, die ich je gesehen hatte.
Ich spürte, daß von dem Licht Liebe zu mir ausging, und das verwirrte mich. Ich hatte nie das Gefühl gehabt, als würde ich die Liebe Gottes verdienen. Jedesmal wenn ich einen Hinweis darauf erhalten hatte, daß er seine Hand über mein Leben gehalten hatte, war ich davon ausgegangen, daß ich als zufällig ebenfalls Anwesende profitiert hatte, weil ein anderer Mensch in meinem Leben, jemand, der besser war und es mehr verdiente, Gottes Segen erhalten hatte; auf diese Weise war ein bißchen von Gottes Liebe zufällig auch an mir hängengeblieben. Man hatte mich gelehrt, daß Gott all seine Kinder und all seine Geschöpfe liebt. Natürlich teilte ich Gottes Geschöpfe in Kategorien ein und nahm an, daß wir alle unser Päckchen zu tragen haben. Ich hatte mich dabei für so wichtig gehalten wie die Bäume und Fische und sah jetzt, daß ich meine Fähigkeit begrenzt hatte, seine Gegenwart und seine Anteilnahme an mir zu spüren. Ich hatte meine Wichtigkeit und das Wesen meiner Herkunft grob unterschätzt -
ich bin buchstäblich die geistige Nachkommenschaft Gottes.
Ich sah sogar aus wie er. Ich war überrascht, daß er wirklich einen Körper mit Armen und Beinen und Gesichtszügen wie meine hatte, und ich fixierte mich sofort auf seine Nase. Der Nasenrücken hatte einen Höcker und verjüngte sich zu einem spitzen Punkt wie bei den Nasen, die man auf griechischen Vasen findet. Ein ungewöhnliches Merkmal von mir ist, daß ich ebenfalls einen Höcker auf dem Nasenrücken aufweise, den ich von meiner Mutter geerbt habe. Als ich die Gesichtszüge Gottes studierte, stellte ich verwundert fest, daß das, was ich in der Kirche und aus der Bibel gelernt und für bildlich bzw. symbolisch gehalten hatte, anscheinend wörtlich zu verstehen war. Unser Körper ist tatsächlich nach seinem Bild geschaffen. Diese Erkenntnis war überwältigend.
Wahrscheinlich wegen des strahlendweißen Lichts kam Gott mir wie ein alter Mann ohne Falten und mit einem jungen, starken Körper vor. Die Schultern waren breit, der Brustkorb gut entwickelt. Die Arme waren stark und die Muskeln deutlich sichtbar. Das scharfgeschnittene Gesicht war kräftig und vollkommen und erhielt durch einen großen weißen Bart etwas Weiches. Noch eindrucksvoller als die körperlichen Charakeristika war für mich jedoch das Licht, das von ihnen ausging. Alle Schönheit, alle Liebe, alle Güte waren in dem Licht enthalten, das von seinem Wesen ausströmte.
Einen Schimmer dieses Lichts habe ich seitdem in den Herrlichkeiten der Natur entdeckt und Teile von ihm in Menschen, die lieben, ohne zu urteilen, und die geben, ohne etwas zurückzuerwarten. Gelegentlich habe ich die Anwesenheit von Lichtgeistern gespürt, und es ist diese Art von Licht, die von ihnen ausgeht. Aber nichts, was wir uns vorstellen können, kommt dem Ausmaß der vollkommenen Liebe nahe, die dieses Wesen in mich einfließen ließ. Ich war gebannt von seiner Schönheit. Aber obwohl Gott mich mit Verwunderung und Ehrfurcht erfüllte, war ich sicher, daß ich ihm nicht zum erstenmal begegnete. Er war mir so vertraut. Obwohl ich mich nicht an Einzelheiten eines Lebens vor meiner irdischen Geburt erinnerte, kam mir die Ahnung von einem Leben, das ich mit dem Vater gemeinsam hatte, einem Leben im Geiste, das sich bis zum Beginn des Universums zu erstrecken schien.
Ich sah, daß niemand sonst auf der Ebene die Gegenwart Gottes bemerkte. Der Mann, der neben mir kauerte, konnte sehen, daß ich mich auf etwas konzentrierte, aber offenbar konnte er nichts hinter der Barriere erblicken. Andere redeten ahnungslos weiter.
Dann sprach Gott zu mir. Seine Worte schmerzten. »Ist es das, was du wirklich willst?«
Natürlich wollte ich nicht von meiner Familie und den Menschen, die mich liebten, getrennt sein, aber ich hatte keine andere Wahl. Ich hatte bei allem versagt, was mir wirklich wichtig war; ich hatte auch versucht, den Lauf meines Lebens zu ändern, was katastrophale Folgen gehabt hatte, Der Punkt war meines Erachtens nicht, was ich wollte, sondern zu was ich fähig war. Ich war unfähig zum Erfolg, und den Schmerz der Mißerfolge konnte ich nicht länger ertragen. Ich hatte das Gefühl, an diesen finsteren Ort zu gehören.
Jetzt explodierte seine Stimme vor Energie. »Weißt du nicht, daß es das Schlimmste ist, was du tun konntest?« Ich spürte seine Wut und seine Enttäuschung
-weil ich aufgegeben und mich von ihm und seiner Anleitung abgewandt hatte. Ich stand da mit demselben steinernen Gesicht, das ich als Teenager bei JoAnnes Strafpredigten anläßlich meiner schlechten Schulnoten aufgesetzt hatte - die, wie sie und Vater warnend meinten, meine späteren Möglichkeiten stark einschränken würden. Damals konnte ich mir ein Leben nach der High-School kaum vorstellen, und als Erwachsene ging es mir, wenn ich an die Zukunft dachte, oft ähnlich. Ganz gewiß hatte ich mir nicht vorgestellt, daß ich auch nach meinem Tod unter den Folgen meines Tuns zu leiden hätte.
Ich hatte das Gefühl, in der Falle zu sitzen. Ich hatte keine andere Möglichkeit gesehen, als zu sterben, bevor ich im Leben noch mehr Schaden anrichten konnte. Also antwortete ich: »Aber mein Leben ist so schwer
«
Meine Gedanken wurden so schnell mitgeteilt, daß ich sie noch nicht ganz beendet hatte, als ich auch schon seine Antwort aufnahm: »Du meinst, das war schwer? Es ist nichts im Vergleich zu dem, was dich erwartet, wenn du dir das Leben nimmst.«
Wenn der Vater sprach, explodierte jedes seiner Worte in einen Komplex von Bedeutungen, wie ein Feuerwerk, wie winzige Lichtbälle, die in Milliarden Informationseinheiten zerbrachen und mich mit Strömen lebendiger Wahrheit und reinen Verständnisses erfüllten. »Das Leben ist immer schwer. Du kannst nicht Teile überspringen. Wir haben es alle hinter uns gebracht. Was du bekommst, mußt du dir verdienen.«
Plötzlich spürte ich eine andere Präsenz bei uns
-dieselbe, die zu Beginn meines Übergangs in den Tod bei mir gewesen war und sich mein Leben mit mir angesehen hatte. Ich erkannte, daß er die ganze Zeit bei uns gewesen war, ich aber erst jetzt fähig wurde, ihn wahrzunehmen. Dann spürte ich seine machtvolle und doch sanfte Persönlichkeit, und zwar so stark, daß ich jetzt sogar seine Form bestimmen konnte. Ich sah Teile von Licht, die durch die Finsternis drangen, wie winzige Laserstrahlen, die ein schwarzes Blatt Papier durchlöchern, oder wie Sterne, die in einer schwarzen, wolkenlosen Nacht blinken. Manche Sterne leuchten stärker als andere, und einige sind kaum wahrnehmbar; ebenso waren einige Lichtfiecken, die die Finsternis durchdrangen, für mich nicht ganz zu sehen. Ich mußte mich dazu wirklich anstrengen. Das Licht leuchtete unverkennbar genauso wie das wundervolle Licht, das vom Vater ausging, aber meine geistigen Augen waren nicht in der Lage, es ganz anzublicken. Meine Fähigkeit, mit meinen Augen zu sehen, war irgendwie mit meiner Bereitschaft zu glauben verknüpft.
Die Lichtstrahlen durchdrangen mich mit unglaublicher Kraft, mit der Gewalt einer allesverzehrenden Liebe. Diese Liebe war so rein und mächtig wie die des Vaters, hatte aber eine ganz neue Dimension reinen Mitgefühls, vollständigen und vollkommenen Einfühlungsvermögens. Ich spürte, daß er mich und meine Schmerzen nicht nur genau verstand
- so, als hätte er mein Leben gelebt -‚ sondern daß er auch genau wußte, wie er mich durch das Leben hindurchleiten konnte und meine Entscheidungen zu mehr Bitterkeit oder neuem Wachstum führen würden. Nachdem ich mein ganzes Leben lang geglaubt hatte, es würde sowieso niemand verstehen, was ich mitgemacht hatte, erkannte ich nun, daß es ein anderes Wesen gab, welches ebendies doch tat.
Dieses Mitgefühl war von tiefem Kummer durchzogen. Das Leid, das ich ertragen hatte, tat ihm weh, aber mehr noch bekümmerte ihn, daß ich nicht seinen Trost gesucht hatte. Sein größter Wunsch war, mir zu helfen. Er beklagte meine Blindheit genauso, wie eine Mutter ein totes Kind betrauern würde. Plötzlich wußte ich, daß ich in der Gegenwart des Heilands der Welt war. Durch den Schleier der Finsternis sprach er zu mir. »Verstehst du nicht? Ich habe es für dich getan.« Als seine Liebe und das Leid, das er für mich getragen hatte, mich überfluteten, wurden meine geistigen Augen geöffnet. Ich begann genau zu sehen, was der Erlöser getan hatte, wie er sich für mich geopfert hatte. Er zeigte es mir; er hatte mich in sich aufgenommen, mein Leben in seins eingeschlossen, sich meine Erfahrungen, mein Leiden zu eigen gemacht. Und so war ich einen Augenblick lang in seinem Körper, sah die Dinge aus seiner Sicht und hatte sein Bewußtsein. Er ließ mich ein, damit ich selbst sehen konnte, wie er meine Lasten auf sich genommen hatte und wie sehr er mich liebte.
Und ich wußte, wo ich geirrt hatte. Ich hatte an seiner Existenz gezweifelt. Ich hatte die Gültigkeit der Bibel in Frage gestellt, weil das, was sie behauptete, zu schön schien, um wahr zu sein. Ich hatte gehofft, die Vorstellung von einem Erlöser, der sein Leben für mich gab, wäre wahr, aber ich hatte Angst gehabt, es wirklich zu glauben. Um zu glauben, ohne zu sehen, braucht man sehr viel Vertrauen. Mein Vertrauen war so oft mißbraucht worden, daß nicht mehr viel übrig war. Und deshalb hatte ich mich so fest an meinen Schmerz geklammert, daß ich eher bereit war, mein Leben zu beenden, als meine Last abzugeben und so zu handeln, als könnte es einen Erlöser geben. Er wollte mich trösten und halten, aber meine Reaktionen auf die Lektionen des Lebens trennten uns. Er war schon mein ganzes Leben hindurch für mich dagewesen, aber ich hatte ihm nicht vertraut.
Jetzt verstand ich, daß der Erlöser ganz in mich hin-einsah und wie die Ereignisse meines Lebens zu soviel Leid geführt hatten. Ich hatte nicht nur das Gefühl, daß er mein Leben und meinen Schmerz genau kannte, so als hätte eigentlich er mein Leben gelebt, sondern auch, daß er alles wußte, was mit mir zusammenhing. Er wußte, wie er mich durch die Tiicken des Lebens geleiten konnte. Er kannte meine Zukunft und wußte, wie meine Entscheidungen zu mehr Bitterkeit oder mehr Wachstum führen würden, je nachdem, was ich wollte und zu was ich bereit war. Da ich mein ganzes Leben lang gedacht hatte, niemand könnte verstehen, was ich durchgemacht hatte, wußte ich jetzt, daß es ein anderes Wesen gab, das wirklich alles verstand. Seine Liebe umgab mich, taute mich auf und schwemmte alle noch verbliebenen Gefühle der Wert-losigkeit aus mir heraus.
Als ich aus der Sicht des Erlösers sah, wurde sein Verständnis meiner mißlichen Lage auf den Vater übertragen. Aus meiner neuen Perspektive sah ich Gott im Profil, wie er auf meine Gestalt schaute. Die Kommunikation zwischen Vater und Sohn war so schnell, so vollkommen, daß sie die Gedanken des anderen gleichzeitig zu denken schienen. Jesus trat als mein Fürsprecher auf. Dabei gab es keinen Konflikt, keinen Streit; die Einsichten Jesu wurde ohne Disput akzeptiert, weil er alle Zusammenhänge kannte. Er war der vollkommene Richter. Er wußte genau, wo ich im Verhältnis zu meinem Bedürfnis nach Gnade und dem Bedürfnis des Universums nach Gerechtigkeit stand. Ich sah jetzt, daß alles Leid meines irdischen Lebens vorübergehend sein würde und in Wirklichkeit zu meinem Besten war. Unsere Leiden auf Erden müssen nicht zwecklos sein. Auch die tragischsten Umstände lassen Menschen wachsen.
Das Leiden an diesem Ort, diesem Fegefeuer, diesem höllenähnlichen Zustand, war anders
- sinnlos, überflüssig, erstickend. Dies war wirklich die Höllenqual -eine nutzlose und endlose Pein, die mich erwartete, weil ich mir das Leben genommen hatte. Aber ich sah noch nicht, wie ich mich vor dem treibenden Strom der Ereignisse hätte schützen können, die mich geformt und zu dem Punkt der Verzweiflung geführt hatten, an dem Selbstmord die einzige Lösung zu sein schien.
Der Vater unterbrach meine Gedanken. »Ich habe dir gesagt, wie du es schaffen kannst.« Und blitzartig fiel mir das Büro meines Geistlichen und der Ratschlag ein, dessen Befolgung er im voraus von mir verlangt hatte. »Wenn du die Bibel liest und betest
.. ‚ «
Wie ein Narr, der unwissend einen unbezahlbaren Renoir zusammen mit normalem Trödel auf dem Speicher versteckt, hatte ich den Schlüssel zum Leben nicht erkannt, der auf meinem Bücherregal verstaubte. Machtvolle Wahrheiten sind in der Bibel enthalten, und weil ich sie nicht ganz verstanden oder geglaubt hatte, war ich über sie hinweggegangen. Ich betrachtete die Bibel als mysteriöse Botschaft für spirituell Auserwählte, die das besondere Vorrecht erhalten hatten, sie zu verstehen. Und oft begrenzte ich selbst mein Verständnis und dachte, die Botschaften in der Bibel wären widersprüchlich oder veraltet. Ich hatte ihren Bezug zu den Problemen meines Lebens nicht gesehen.
Da ich mich von Gott verlassen fühlte und glaubte, seine Anleitung nicht zu verdienen, hatte ich mich nach innen gewandt und auf der Suche nach einem Ausweg mich selbst zerfleischt. Ich hatte mich von der Welt abgeschnitten. Meine Gespräche mit Menschen gaben nie meine wahren Gefühle wieder. Ich war reserviert und ließ niemanden meine Innenwelt sehen. Meine gesamte emotionale Energie war darauf ausgerichtet, zu überleben, mich über Wasser zu halten, bis ich feststellte, daß ich jeden Tag weniger Energie, weniger Lebenswillen hatte.
Ich sah jetzt, daß das Gebet der Schlüssel ist, um die Wahrheiten zu entdecken, die in Gottes geschriebenem Wort enthalten sind. Die Bibel ist das Lehrbuch, aber Gott ist der Lehrer. Ohne seine Anleitung geht viel von seiner geschriebenen Wahrheit verloren, weil wir sie interpretieren. Wir alle sind Schüler, und wenn der Schöpfer des Werks seine Symbolik nicht erklärt, erfassen wir sie manchmal einfach nicht.
In dieser vernünftigen, endlichen Welt, in der greifbare Beweise wichtiger sind als »Empfindung« oder »Gespür«, hatte ich versucht, alles in konkrete Bilder zu pressen, damit es mich nicht bedrohte. Aber jetzt erkannte ich, daß die Bibel mich stärken konnte, wenn ich nur die Kraft ihrer Einfachheit akzeptierte.

Kapitel 15
Als Gott der Vater und Jesus mich lehrten, nahmen ihre Worte Kraft und Geschwindigkeit auf und verschmolzen dann, so daß sie im selben Augenblick dasselbe sagten. Sie hatten eine Stimme, einen Verstand und eine Absicht, und ich wurde mit reinem Wissen überschwemmt.
Ich erfuhr, daß genauso, wie es die Naturgesetze gibt - Gesetze der Physik und Wahrscheinlichkeit -
auch geistige Gesetze existieren. Eines dieser geistigen Gesetze lautet, daß wir alles, was wir anderen antun, mit eigenem Leid bezahlen müssen. Ich war mir schmerzlich des Leids bewußt, das ich meiner Familie und anderen Menschen durch meine Schwäche angetan hatte. Aber jetzt sah ich, daß ich durch meinen Selbstmord das Gewebe der Verbindungen von Menschen auf der Erde zerstörte, das Leben von Millionen möglicherweise einschneidend veränderte, denn wir alle sind untrennbar miteinander verbunden, und die negative Auswirkung einer Entscheidung wird auf der ganzen Welt empfunden.
Meine Kinder würden durch meinen Selbstmord sicher schwer geschädigt. Mir wurde ein flüchtiger Blick in ihre Zukunft gewährt, nicht auf die Ereignisse ihres Lebens, sondern eher auf die Energie und den Charakter, den ihr Leben haben würde. Dadurch, daß ich meine irdische Verantwortung aufgab, würde ich meine Kinder beeinflussen und vor allem meinen ältesten Sohn zu Entscheidungen veranlassen, die ihn von dem entfernen würden, was Gott mit ihm vorhatte. Mir wurde gesagt, daß Alex vor seiner Geburt damit einverstanden gewesen war, während seines Lebens auf Erden bestimmte Aufgaben zu erfüllen. Seine Mission wurde mir nicht offenbart, aber ich spürte die Energie, die sein Leben bis ins junge Erwachsenenalter haben würde. Ihm war ganz klar eine Rolle übertragen worden, die auf das Leben vieler Menschen bedeutende Auswirkungen haben würde. Ich wußte, daß der Schmerz über meinen Tod an ihm zehren, ihn herunterziehen und alle Hoffnung und alles Gute in ihm zerstören würde. Ohne mich würde er seine Aufgaben auf Erden möglicherweise nicht erfüllen können.
Das Leben meines Sohns Jacob war anders, denn er erledigte bereits einen heiligen Auftrag für Gott. Mir wurde gezeigt, daß ich ihn kannte und liebte, bevor ich geboren wurde, und daß er sich entschieden hatte, als mein Sohn auf die Erde zu kommen. Durch diese Entscheidung hatte er ein enormes Risiko auf sich genommen. Als ich mit ihm schwanger war, hatte der Fortbestand meiner Ehe an einem seidenen Faden gehangen. Die Scheidung schien bevorzustehen, und Schuldgefühle über meine Lebensführung drückten mich nieder. Ich war ein emotionales Wrack und hielt mich für eine schreckliche Mutter. In einer Nacht war meine Verzweiflung so groß, daß ich mit einer geladenen Schrotflinte in den Hinterhof ging und sie gegen meine Mandeln preßte. Wegen des Lebens, das in mir heranwuchs -
Jacob -konnte ich den Auslöser dann doch nicht betätigen.
Die Liebe und die Freundlichkeit meiner Schwiegermutter hatten mir in dieser Zeit sehr geholfen. Sie kam am vorgesehenen Entbindungstermin an und konnte eine Woche bleiben. Sie war gekommen, um mir bei dem neuen Baby zu helfen, und kittete unwissentlich den Riß zwischen mir und Richard. Er hatte Schichtdienst, und deshalb blieb den beiden sehr wenig Zeit zum Reden.
Die ganze Woche über hatte ich Kontraktionen, aber die richtigen Wehen setzten nicht ein. Als Richard dann seine Mutter zum Flughafen fuhr, bekam ich eine Welle von so schnellen und heftigen Wehen, daß ich kaum am Telefon wählen konnte. Jacob wurde eine halbe Stunde später geboren, während Richard und seine Mutter am Flughafen saßen und sich zum erstenmal seit langer Zeit sinnvoll unterhielten. Sie riet ihm liebevoll, bei seiner Familie zu bleiben, Geduld mit mir zu haben. Wenn Jacob früher gekommen wäre, hätten Richard
- und ich - sicher nicht von ihrer Weisheit profitiert.
Deshalb kam Jacob als Botschafter der Liebe zu mir. Er kam, um mir einen Grund zu geben, auf dem dünnen Seil des Lebens ein
- wenn auch instabiles - Gleichgewicht zu halten. Er hatte die Wahl gehabt, darauf zu warten, daß ich reifer wurde, oder eine andere Mutter auszusuchen; aber er hatte auf die Sicherheit verzichtet, um mir zu helfeu. Das war alles, was mir zu seinem Leben mitgeteilt wurde. Ich weiß nicht, ob sein Leben hier kurz sein wird oder ob seine späteren Aufgaben durch meinen Tod gefährdet worden wären; ich durfte nur einen flüchtigen Blick auf seine Kindheit werfen. Mir wurde gesagt, daß meine Kinder große und machtvolle Seelen seien und ich sie bis zu diesem Punkt in meinem Leben nicht verdient hätte. Ich bekam eine flüchtige Ahnung davon, wie sehr Gott meine Jungen liebt und wie sehr ich durch meine gefühllose Mißachtung des Lebens in den heiligen Willen Gottes hineinpfuschte.
Dann wurde mir gezeigt, wie ich durch meinen Selbstmord anderen Menschen schaden würde, die mir nahestanden, meinem Mann etwa und meiner Schwester Toni; und durch den Schneeballeffekt würden zahllose andere Menschen auf der Erde, denen ich nie begegnet war, durch meinen Selbstmord beeinflußt werden. Weil geliebte Menschen wegen mir wütend und verletzt sein würden, könnten sie das Gute, das sie eigentlich an andere hätten weitergeben sollen, nicht vermitteln. Ich wäre verantwortlich für die Schäden, die sie anrichten würden, bzw. für das nicht getane Gute. Und ich würde teuer dafür bezahlen, denn die geistigen Gesetze sehen vor, daß alle Schäden -
und auch nicht ausgeführte gute Taten -die sich aus meinem Tod ergeben, durch Leiden bestraft werden. Auch wenn ich den Schneeballeffekt, den mein Tod auslöste, nicht vorhersehen konnte, würde ich für ihn zur Rechenschaft gezogen werden. Auch Gott ist an die geistigen Gesetze gebunden, und deshalb konnte es für mich kein Entrinnen geben.
Und mir wurde gezeigt, daß die Ebene der Finsternis für mich so etwas wie ein spirituelles »Aus« war, ein Ort, an dem ich die Schwere meiner Vergehen einsehen und den Preis für sie bezahlen sollte. Aber ich mußte fragen: Warum ich? Warum konnte ich Gott sehen, während die leere Hülse des Mannes neben mir nicht dazu imstande war? Warum nahm ich Licht auf und wurde belehrt, während er in Elend und Finsternis dahinvegetierte?
Mir wurde gesagt, daß der Grund die Bereitschaft ist. Als ich den Mann zum erstenmal gesehen und mich gefragt hatte, ob er zur Erdenzeit Jesu gelebt haben mochte, zeigte dieser Gedanke, daß ich bereit war, an Gott zu glauben, bereit zu glauben, daß Christus einmal auf Erden gewandelt war. Und sobald ich bereit war zu glauben, war ich fähig zu sehen. Bereitschaft und Fähigkeit sind dasselbe. Überall um mich herum auf der dunklen Ebene waren Menschen, deren Bereitschaft, Verständnis und Fähigkeit zu begreifen, daß Jesus Christus immer bei uns ist, unterschiedlich war. Ich weiß nicht, ob die anderen mit Gott so redeten wie ich oder ob sie zu anderen Boten des Lichts sprachen, die ich noch nicht sehen konnte, aber ich bin sicher, daß nicht alle nur mit sich selbst sprachen. Und ich begriff, daß meine spirituelle »Auszeit« einen Augenblick oder Tausende von Jahren dauern konnte, je nachdem, wann ich bereit war, das Licht zu sehen.
Und was ist mit dem geistigen Gesetz, das von mir verlangte, für den Schaden zu büßen, den ich im Leben bis jetzt bereits angerichtet hatte, einschließlich meines Selbstmords? Mir wurde gesagt, daß die Schuld schon bezahlt, das Opfer schon gebracht war. Im Garten Gethsemane hatte Jesus Christus alles Leiden erlebt, das im Leben irgendeines auf dieser Erde geborenen Menschen je eingetreten ist oder eintreten wird. Er hat mein Leben gelebt, meine Sünden getragen, meinen Schmerz übernommen. Aber damit die Qualen, die Jesus für mich erduldet hatte, zählten, damit er bei der Erfüllung dieses geistigen Gesetzes meinen Platz einnehmen konnte, mußte ich sein Geschenk annehmen.
Mir brach das Herz, als ich erkannte, daß ich nicht nur meiner Familie weh getan hatte, die zu den geliebten Kindern Gottes zählt, sondern auch meinem Heiland, der eine so allumfassende Liebe, ein so allumfassendes Mitgefühl für mich aufbrachte -
und das nur, weil ich zugelassen hatte, daß die Schwäche anderer Menschen mich formte.
Wie andere uns formen, wurde mir so gezeigt: Alles besitzt schöpferische Kraft, sogar der Löwenzahn in meinem Hinterhof. Eine einzige Löwenzahnpflanze ist kaum eine Bedrohung, aber wenn sie zu lange stehengelassen wird, verbreiten sich die winzigen Samen. Neues »Unkraut« sprießt, das seine Samen verstreut, und der Kreislauf geht weitet Ansteckende Krankheiten verbreiten sich genauso, und auch alle geistigen Dinge folgen diesem Mustet Wenn wir die Liebe hegen und pflegen, schlägt sie in der Seele Wurzeln. Sie wächst und reift und erzeugt neue Samen, die sich im Leben der Menschen verbreiten, mit denen wir in Kontakt kommen. Und der Kreislauf setzt sich fort. Manche Samen gehen zugrunde, wenn sie auf unfruchtbaren Boden fallen. Wir sind die Betreuer des Bodens und stellen den Boden her, der für das Kraut, das wir wachsen lassen wollen, am geeignetsten ist. Manche von uns sind umsichtige Gärtner, die alle störenden und potentiell gefährlichen Kräuter ausreißen, so daß viel Platz für Gutes bleibt, Dinge, die bewußt gepflanzt und umsorgt werden. Andere von uns sind ein bißchen nachlässig und nicht systematisch genug dabei, das Schlechte zu entfernen und das Gute zu ernten. Noch andere sind schlechte Bodenbesteiler; sie schaffen die perfekte Brutstätte für zerstörerische Unkräuter, die die gesamte erwünschte Vegetation verdrängen. Ich gehörte zur letzten Gruppe. Wie im Nebel war ich durchs Leben gewandert und griff hier und da ein bißchen auf. In oberflächlichen Taik-Shows angerissene Weltanschauungen, voneinander abweichende Lehren und Meinungen waren ein Dünger gewesen, der mir nicht guttat. Ich hatte nicht gelernt, das Gute vom Schädlichen zu trennen, und deshalb war die Realität, die ich als Wahrheit akzeptierte, so verworren, daß das Gute nicht wiederzuerkennen war. Der Boden meines Gartens war für gesunde Pflanzen nicht günstig. Schlimmer noch: Ich hatte methodisch alle guten Keimlinge ausgerissen und die Unkräuter gehegt.
Ein Unkraut zum Beispiel, das ich hegte, war aus dem Samen des Unglücks meiner Stiefmutter gewachsen. Sie war mit Migräne und zahlreichen emotionalen Problemen geschlagen, die das Ergebnis einer schmerzlichen Kindheit waren. Sie erwartete von uns Kindern ein jederzeit tadelloses Verhalten. Als ich einmal krank von der Schule nach Hause kam, versuchte ich, den Fernseher einzuschalten, der in mein Zimmer gerollt worden war, damit ich im Bett Beschäftigung hatte. Nichts tat sich. Ich ging zu meiner Stiefmutter, die steif und fest behauptete, ich hätte ihn kaputtgemacht; auch wenn ihre Worte mit der Zeit verblaßt sind, kann ich ihre negative Energie immer noch spüren. Als sie damit fertig war, mich auszuschelten, ging ich in die Küche, um mir einen Toast zu machen, und als meine Stiefschwester mir die Brot-scheibe gab, ließ ich sie fallen. War es meine Krankheit, der Streß wegen der bereits erhaltenen Schelte oder meine Angst, Probleme zu bekommen, weil ich eine Scheibe Brot vergeudet hatte
- ich wurde bewußt-los, fiel gegen die Wand und stieß mit dem Kopf an einen Keramikübertopf, der zerbarst.
War die Wut meiner Stiefmutter ungerecht? Ja. Aber dadurch, daß ich mir diese dunkle Energie nach und nach zu eigen machte, hegte ich ein schädliches Kraut. Der Boden, den meine Unkräuter liebten, war durch die Unwahrheit verdorben, die ich in bezug auf mich akzeptiert hatte
- daß ich irgendwie darum gebeten hatte, verletzt zu werden. Ich hatte Menschen, die andere mißbrauchten, mein ganzes Leben lang beschützt und mich deshalb für eine Mitverschwörerin gehalten. Auf diesem Boden konnten all meine negativen Gedanken über mich ungehindert aufblühen und meinen Garten überschwemmen. Ich hatte ihnen erlaubt, das Licht in mir fast völlig zu verdrängen. Bevor ich mir das Leben nahm, hatte ich eine emotionale Krise, die mich zwang, mich ehrlich anzusehen. Nach intensiver Prüfung kam ich zu dem Schluß, daß andere, nicht ich, für ihre schädlichen Taten verantwortlich waren, daß ich sie nicht ausgelöst hatte. Dadurch hatte ich einen Mangel meines Bodens korrigiert, aber ich schloß den Denkprozeß nicht ab: Ich sah nicht, daß ich dieser Logik zufolge für den Schmerz verantwortlich bin, den ich anderen zufüge. Und so keimte die Wut über die fast vergessenen Feinde meiner Vergangenheit und ließ eine neue Ernte von Lügen wachsen. Alle negativen Gefühle, die ich bereitwillig übernommen hatte - Haß, Selbstmitleid, Egoismus, der ganze Rest -waren um mich herum gewachsen; ihr wie ein Weinstock gewundener Stamm schlang sich um mich und griff auch auf jeden in meiner Umgebung über, besonders auf die Menschen, mit denen ich die meiste Zeit verbrachte, meine Kinder. Einen klaren Beweis für diese »Ansteckung« erhielt ich in der Zeit, in der ich von Richard getrennt war. Ich lebte in Südkalifornien und arbeitete nachts als Kellnerin. Ich wechselte mich im Babysitten mit einer Freundin ab, die tagsüber arbeitete und ebenfalls von ihrem Mann getrennt war. Ich holte ihre Jungen ab, wenn ich morgens von der Arbeit kam, und paßte den ganzen Tag auf sie auf, bis ich abends alle vier Jungen bei ihr ablieferte. Es war eine tolle Vereinbarung. An einem Nachmittag nahm ich alle Kinder in ein Fastfood-Restaurant mit, und mein Sohn hatte einen seiner üblichen Wutanfälle. Alex war damals knapp zwei Jahre alt, und ich dachte, sein Alter wäre an seinen ständigen Ausbrüchen schuld. Aber einer der Söhne meiner Freundin fragte: »Warum macht er das?« Ich antwortete: »Na ja, er ist eben gerade in der Phase. Er macht das immer.« Der Junge sagte: »0 nein, bei uns zu Hause nicht.«
Mein Sohn reagierte also auf seine Umgebung. Ich und mein verantwortungsloses Leben machten ihm angst. Er hatte sich von den Ausläufern meiner Reben fesseln lassen.
Reue überfiel mich, als ich über die Zeiten und Gelegenheiten nachdachte, die ich vergeudet, und die Leben, die ich beeinflußt hatte. Ich sah jetzt, daß wir den Boden -
den Geisteszustand - schaffen, in dem wir die nährende Kraft des Geistes Gottes, das Licht, anzapfen können; oder wir kultivieren eine persönliche Atmosphäre, die das Gute erstickt und die Finsternis fördert. Ich verstand allmählich die Eigenschaften von Dunkelheit und Licht.

Kapitel 16
Die Wissenschaft weiß natürlich, daß Licht alle Farben enthält, auch Farben an beiden Enden des Spektrums, die dem bloßen Auge nicht sichtbar sind. Genauso wie der Regenbogen lediglich einen kleinen Ausschnitt des sichtbaren Lichts wiedergibt, ist das Licht, das wir mit unseren physischen Augen sehen, nur ein dünnes Band innerhalb des breiten Lichtspektrums, das existiert. Die ganze Breite des Lichts, des Lichts Gottes, enthält unvorstellbare Farben und reicht in unermeßliche Tiefen. Das Licht ist mehrdimensional und ebenso die Finsternis. Licht ist die innerste Substanz von allem, was gut ist - Schönheit, reine Liebe, Wahrheit, Wissen, Opfer, Anteilnahme an anderen und so weiter. Bosheit, Perversionen, Verdorbenheit, Haß und Apathie, Impulse, die uns dazu treiben, anderen weh zu tun, die Lügen, die wir erzählen, die verletzenden Worte, die wir wie Dolche werfen - all dies sind Aspekte der Finsternis. Finsternis ist nicht nur die Abwesenheit von Licht. Sie ist die Energie, aus der das Böse besteht.
Mit meinen spirituellen Augen konnte ich leicht sehen, daß Finsternis und Licht buchstäblich materielle Elemente sind und alles in der Schöpfung eine spintuelle Seite hat, die voll Finsternis oder voll Licht ist.
Als ich in der Dunkelheit vor Gott und seinem Sohn stand, sah ich ganz deutlich, daß jedes dieser beiden Wesen einen eigenen Körper und einen eigenen Geist hatte, daß sie getrennt und doch gleichzeitig ganz und gar eins waren. Es war das Licht, das sie einte. Sie waren individuelle Wesen, weil jeder seinen Körper und seinen Geist besaß, aber das Licht, ihre bemerkenswerteste Eigenschaft, war dasselbe. Licht ist beweglich und kann durch gedankliche Energie übermittelt werden; Finsternis ebenso.
Auch wir Menschen bestehen aus drei wesentlichen Seinsebenen. Daß wir einen Körper haben, ist offensichtlich, und seit der Beerdigung meines Onkels Sam, bei der ich zum erstenmal einen toten Körper sah, wußte ich zweifelsfrei, daß wir einen Geist haben, der den Körper eine Zeitlang bewohnt und ihn dann verläßt. Aber Körper und Geist sind nur zwei der Elemente, aus denen das ganze Wesen besteht. Das dritte ist eine innere Natur, die aus Finsternis oder aus Licht bestehen kann. Bei den meisten von uns ist es eine Kombination der beiden; die jeweiligen Anteile verändern sich bei jedem Gedanken, der in unserem Verstand entsteht, bei jeder Fernsehshow, die wir sehen, bei den Worten, die wir sagen, und bei jeder Interaktion mit anderen Menschen. Sogar ein Lächeln kann das Verhältnis verändern. Durch die Substanz
- Licht oder Finsternis -‚ die wir benutzen, um unsere Worte und Taten und sogar unsere Gedanken zu formen, besitzen wir unglaubliche Macht, für das Gute oder für das Böse zu wirken. Ein Gedanke, egal, ob aus Licht oder aus Finsternis bestehend, ist im Grunde eine Tat im Embryonalzustand. Zwar werden viele Gedanken nicht weiterverfolgt, aber alle Taten waren zuerst Gedanken. Ein Gedanke, der ausgesprochen wird, erhält Kraft und kann verletzen oder heilen. Durch lichtvolle Worte, durch finstere Gedanken und Taten schmieden wir unser eigenes Geschick und das der anderen.
Als Sterbhche sehen wir die Welt durch vergängliche Augen, die das Licht oder die Finsternis in anderen und uns selbst nicht unbedingt entdecken. Mit unseren physischen Sinnen nehmen wir bestimmte finstere oder lichtvolle Elemente wahr, aber diese Elemente sind nur ein kleiner Teil des Ganzen. Mit Hilfe unseres Geistes können wir unsere Fähigkeit erweitern, breitere Streifen von Licht bzw. Finsternis zu sehen. Die Liebe zum Beispiel ist ein Aspekt des Lichts, den wir mit dem Gefühl wahrnehmen. Wir sehen sie weder mit unseren physischen Augen, noch berühren wir sie mit unseren physischen Händen, aber wir wissen, daß sie existiert. Die Liebe ist eine Energie, die wir durch unseren Geist erkennen können. All unsere Gefühle haben eine innerste Natur, die aus einem bestimmten Grad an Licht oder Finsternis besteht.
Genauso wie die materielle Dunkelheit unsere Sehfähigkeit behindert, werden wir spirituell blind, wenn wir voll Finsternis sind. Wenn genug Finsternis sich ansammelt, ist sie so aggressiv, so undurchdringlich, daß es fast unmöglich wird, das Licht zu sehen oder zu spüren. Es ist sehr viel einfacher, Licht aufzunehmen, wenn bereits Licht in uns existiert. Und wie die Lichtbänder, die wir mit unseren physischen Augen sehen, unsere materielle Umgebung erhellen, gibt es unsichtbare Wellenlängen des Lichts, die uns Dinge offenbaren können, die wir nicht so offensichtlich sehen. Wenn wir nicht eine gewisse Menge Licht in uns haben, können wir die Finsternis nicht erkennen. Deshalb konnte ich zum Beispiel die negative Energie hinter JoAnnes Verhalten spüren, aber nicht die Auswirkungen meiner eigenen erkennen.
Mir wurde gesagt, daß alles entweder gut oder böse ist. Es gibt keine Grauzone, keinen Zwischenzustand. Licht ist Licht, und Finsternis ist Finsternis; und wie Öl und Wasser stoßen Finsternis und Licht sich ab. Manchmal sind die beiden eng ineinander verflochten, und es ist schwierig, sie unabhängig voneinander zu sehen, aber sie nehmen nie denselben Raum ein. Deshalb konnte Gott nicht in die Finsternis meines Gefängnisses kommen, sondern blieb vor der Grenze aus Nebel. Und deshalb konnte ich auch die Finsternis nicht verlassen. Ich war voll von Finsternis, und mein Geist konnte keinen Raum einnehmen, der voll Licht war.
Dasselbe Prinzip gilt in uns. So etwas wie einen passiven Beobachter gibt es nicht. Alles, was wir hätten tun sollen, aber nicht getan haben, hat eine Wirkung. Finsternis und Böses ziehen sich gegenseitig an. Licht und alles, was es zum Inhalt hat, wird von Licht angezogen.
Jetzt erkannte ich dieses Prinzip in meinem eigenen Leben. Obwohl viele Ansichten, die ich über mich
hegte, ihren Ursprung in den schmerzlichen Worten und den verletzenden Taten anderer hatten, erhielt ich von meinen Eltern auch positive Botschaften über mich. Auch meine Freunde und die Mitglieder meiner Kirchengemeinde, die sich für mich interessierten, vermittelten mir gute Gefühle über mich, und durch diese lichtvollen Gedanken und Taten konnte ich schöpferisch sein, besonders während meiner Teenagerjahre.
Ich erinnere mich vor allem an einen Augenblick des Lichts aus dieser Zeit. Die Großmutter meiner Stiefmutter -
Oma B., wie wir sie nannten - lebte in einem Pflegeheim. Meine Familie besuchte sie regelmäßig. Meiner Schwester und mir graute vor diesen Besuchen; wir haßten den Geruch nach Urin und alten Menschen und die Konfrontation mit dem Tod. Aber an einem Weihnachtsfest, als wir Oma B. besuchten, beschlossen Toni und ich, ein bißchen herumzuwandem. Wir staunten darüber, wie viele einsame Männer und Frauen dort waren, in ihren Rollstühlen auf den Korridoren standen und keinen hatten, der sie Weihnachten besuchte. Da wir musikalisch begabt waren und nichts Besseres zu tun hatten, beschlossen wir, für die fünf oder sechs Patienten, die sich im Hauptversammlungsbereich aufhielten, Weihnachtslieder zu singen. Nach kurzer Zeit war der Raum voller Menschen, von denen viele mit glücklicher, brüchiger Stimme mitsangen. An diesem Nachmittag empfand ich so viel Frieden und Glück, daß ich nicht gehen wollte.

Kapitel 17
Als mein Verständnis geweckt war, machte das Licht, das mich nährte, alle Dinge klar. Ich sog das herrliche Licht ein, ich war in reines Wissen, reine Liebe - alles Gute - eingebettet. Und so wurden mir viele Wahrheiten offenbart.
Ich verstand, daß alles, was in unseren Verstand eingeht, uns beeinflußt und das Verhältnis zwischen Licht und Finsternis in uns verändert. In der Zeit vor meinem Selbstmordversuch war ich von einer krankhaften und düsteren Literatur, von Fernsehsendungen und Filmen angezogen gewesen, die aus der Finsternis kamen. Ich sah mir nachts eine religiös verbrämte Serie an, in der es um den Mord an einem jungen Mädchen in einer Kleinstadt ging. Der Dialog war ein Durcheinander von Unsinn und tief symbolischen Lehren finsterster Natur. Die Sendung war total »in«, und ihre Anhänger zitierten oft aus dem Drehbuch und erörterten die Möglichkeit verborgener Bedeutungen. Ich machte es genauso und vermehrte so die Finsternis in meinem Geist. Zu der Zeit waren fast all meine Kleidungsstücke schwarz, ein scheinbar unbedeutender Zufall, der in Wirklichkeit klar meine Ausrichtung zeigte.
Und wahrscheinlich der wichtigste dunkle Einfluß auf mich war die Musik, die ich hörte. Manche Musikstücke haben Worte, die harmlos -
oder besser geistlos - erscheinen, aber wenn diese Worte mit einer spirituell finsteren Musik verbunden werden, können sie im Geist ihrer Hörer mehr Finsternis erschaffen. Wir können spüren, ob die Töne eines bestimmten Stücks aus Licht oder aus Finsternis bestehen; wir brauchen nur zu beobachten, wie die Musik mit unserem Geist zusammenwirkt und eine bestimmte Stimmung erzeugt. Die Musik, die ich damals wählte, lullte mich ein und betäubte mich; in symbolischen Wendungen predigte sie Tod und Egoismus und verdrängte das Licht.
Auch damals wußte ich, daß die Musik, die mir gefiel, und die Dinge, die wichtig für mich geworden waren, nicht »von Gott« kamen. Aber damals war ich überzeugt, spirituell unvollkommen zu sein. Ich dachte, daß ich in den Augen Gottes ein Versager wäre, und so wurde ich genau das und warf mich der Finsternis in die Arme. Ich dachte, ich hätte mein Leben in der Hand, und erkannte nicht, daß die schädliche Macht, die ich anzapfte, in Wirklichkeit mich in der Hand hatte. Die Finsternis erzeugt Unstetigkeit und Ungewißheit in uns. Wenn das Licht in uns abnimmt, halten wir mal dies, mal das für den besten Kurs. Wir wollen oft, daß Zustände in unserem Leben sich auf eine Weise ändern, die nicht gut für uns ist, denn ein Lebensstil, der aus Finsternis besteht, ist verlockend und täuschend. Zur Zeit meines Selbstmords liebte ich meine Familie, aber ich war nicht bereit, die Dunkelheit zu bekämpfen und ein schwieriges Leben zu führen, um mit ihr zusammenzusein. Ich war in einen spirituellen Abgrund hineingestolpert.
Ich hätte mich damals nur retten können, wenn ich mich von der Finsternis befreit und meinen Geist mit Licht angefüllt hätte. Aber ich hielt meine Probleme für so massiv, daß ich dachte, nichts könne mir helfen; dabei hatte ich nicht verstanden, daß die Richtung, die ich eingeschlagen hatte, mich zerstörte. Es gibt nur zwei Richtungen: zum Licht oder zur Finsternis. Es ist egal, wie weit wir auf dem Weg gekommen sind, solange wir uns auf das Licht zubewegen. Jeder noch so kleine Schritt ist wichtig. Mir wurde gesagt, daß die kleinen Dinge, die wir tun, soviel Einfluß haben, weil sie sich ausbreiten und wachsen und neue Samen erzeugen.
Damals kam mir gar nicht in den Sinn, daß ich beten könnte. Die Menschen beten oft, weil das für sie die letzte Zuflucht ist und sie so lange in der Finsternis herumgestolpert sind, daß sie einen Gott, den sie normalerweise nicht anerkennen, verzweifelt um Hilfe bitten. Aber ich hatte solche Schuldgefühle, daß ich es nicht wagte, vor meinen Schöpfer zu treten, obwohl ich genau das hätte tun sollen.
Gott hat unglaubliche Macht, Finsternis und Licht allein durch seine Gedanken umzuverteilen. Wenn wir mit kraftvollen, frommen Worten des Lichts demütig bittend zu ihm kommen, wird die Finsternis vertrieben. Sie wird durch heilende Wahrheit ersetzt, durch Licht, das uns befähigt, noch mehr Licht zu
sehen. Gott, der ohne Finsternis ist, kann uns keine Finsternis geben. Er kann uns nur Wahrheit geben, das, was für uns am besten ist. Alle Antworten Gottes sind im Licht enthalten, und durch dieses Licht vermittelt Gott uns reines Wissen. Die Wahrheit ändert sich nie. Entweder wir akzeptieren sie und werden erleuchtet, oder wir verwerfen sie und bleiben in der Finsternis. Deshalb ist Beten nie das »Geringste«, was wir tun können. Wenn wir aufrichtig, vertrauensvoll und nach Wahrheit strebend zu Gott beten, erzeugen wir die machtvollsten »Erweiterungen« des Lichts, deren wir fähig sind. Oft sehen wir die positive Wirkung nicht, die unsere Gebete auf das Leben der Menschen haben, für die wir beten, aber jedes gesprochene Gebet wird von Gott erhört. Unsere Fähigkeit, seine Antworten zu sehen und zu hören, schwankt, aber er kommuniziert immer mit uns. Ich bete oft für die anderen verstorbenen Seelen, die am Ort der Finsternis eingeschlossen
wurden. Ich bete darum, daß auch sie Gott sehen werden, der auf jede einzelne von ihnen zugeht.
Wir alle sind ewige Geschöpfe mit grenzenlosem Potential. Daß wir spirituell weiterkommen, wenn wir uns für das Gute entscheiden, war immer so und wird immer so sein. Mir wurde gesagt, daß es zahllose Welten gibt, die sich um zahllose Sonnen drehen, und jede wird von Kindem Gottes bewohnt, die denselben Gesetzen unterworfen sind.
Und da wir ewige Geschöpfe sind, gibt es so etwas wie einen letzten und absoluten Tod nicht. Wir sterben, um wieder zu leben, aber wo dies der Fall sein wird, hängt davon ab, wie wir auf Erden gelebt haben. Je mehr wir bereit sind zu lieben, desto mehr Licht erzeugen wir in uns selbst. Je mehr wir auf Abwege geraten, desto mehr Finsternis verbreiten wir. Alle Segnungen Gottes sind an Bedingungen geknüpft, denn die Gesetze Gottes sind unwandelbar. Sie können nicht ungestraft aufgehoben oder mißachtet werden. Wenn wir sie verletzen, werden wir bestraft: Das Licht nimmt ab. Wenn wir sie befolgen, erleben wir eine Gnade, eine Zunahme des Lichts. Dies sind Tatsachen.
Mir wurde auch gesagt, daß ich als Frau die Hälfte eines Ganzen bin. Die Vereinigung von Mann und Frau gibt uns schöpferische Macht -
die gottähnlichste Macht, die uns Sterblichen zugestanden wird. Mir wurde gesagt, daß mein Mann und ich in dieser Verbindung gleich wichtig sind, daß wir aber unterschiedliche Aufgaben haben. Abgesehen von der unterschiedlichen körperlichen Ausstattung werden wir mit bestimmten Eigenschaften geboren, die Gott uns gegeben hat, damit wir diese Aufgaben ausführen können. Mir wurde gesagt, daß ich als Mutter, die beschlossen hatte, mit Alex und Jacob zu Hause zu bleiben, mehr getan hatte, als ich wußte, damit meine Kinder sich geborgen fühlten und eine positive Einstellung zu sich selbst bekamen. Viele Mütter können nicht ständig mit ihren Kindern zusammensein, aber ich hatte diese Möglichkeit; und so war es eine der wenigen guten Entscheidungen aus jenen Jahren gewesen, die Karriere um der Mutterschaft willen aufzugeben. Im Austausch dafür, daß ich meine Verantwortung als Mutter und Ehefrau akzeptiert hatte, würde ich Gelegenheiten erhalten, zu wachsen und Lektionen zu lernen, die eng mit meinen geschlechtsspezifischen Pflichten verbunden sind.
Dann wurde mir klar, daß Richard nicht Geld verdiente, weil ihm das Spaß machte. Er tat es, weil er uns liebte. Als männliche Hälfte unserer Verbindung würde auch er Gelegenheiten erhalten, die Lektionen zu lernen, die mit seiner Rolle als Vater, als Ehepartner und Mann zu tun hatten. Gott hat den Männern bestimmte Kräfte nicht gegeben, um sie zu Herrschern oder Tyrannen zu machen, sondern damit sie Aufopferung und Verantwortung lernen. Gottes Absicht für die Männer ist, daß sie dienen und nicht nach Würden und Privilegien streben.
Auch die Samen anderer Wahrheiten wurden in mir angelegt, obwohl ich sie zu dem Zeitpunkt nicht weiterverfolgen konnte. Ich erkannte, daß sie mein ganzes Leben hindurch sprießen und mich verständnisvoller machen würden. An dem Tag, an dem ich starb, erfuhr ich, wie man lernt.

Kapitel 18
Jetzt verlagerte meine Wahrnehmung sich, und die Finsternis schien sich etwas zu heben. Als ich in das dunkle Gefängnis gekommen war, hatte ich zuerst nur Dinge und Menschen im Reich der Finsternis gesehen. Aber sobald ich von Gott und Jesus genug Licht aufgenommen hatte, wurden meine geistigen Augen für eine andere Dimension der Finsternis geöffnet. Ich sah jetzt, daß überall um mich herum Lichtwesen waren.
Zuerst konnte ich ihre Anwesenheit nur spüren. Energieansammlungen streiften wie ein schneller Windhauch an mir vorbei. Ich konnte das Licht, das von diesen Geistwesen ausging, spüren, bevor ich ihre Gestalt sah. Sobald ich erkannte, daß Lichtwesen um mich herum waren, sobald ich sie spürte, konnte ich sie sehen. Ich hatte den Grundsatz der Menschen »Ich glaube nur, was ich sehe« gegen die Wahrheit Gottes »Glauben heißt sehen« eingetauscht.
Diese geistigen Boten Gottes leuchteten wohltuend, ohne Gottes feste Form und majestätische Kraft zu besitzen. Sie waren in weiße Gewänder gehüllt, und ich wußte nicht, ob sie männlich oder weiblich waren. Obwohl ich nicht sehen konnte, was sie machten, als sie hierhin und dorthin eilten, wußte ich, daß sie uns Menschen auf der Erde halfen. Wie Öl auf Wasser schwimmt, blieb die aktive Schicht der Lichtwesen über einer Schicht von grimmigen, reglosen dunklen Wesen.
Die jüngst Verstorbenen, die auf der Ebene ankamen, wurden in weiße Gewänder gekleidet, aber diese Gewänder waren schmutzig. Wie stumme Schlafwandler, mit seitlich herabhängenden Armen, stiegen diese gefesselten Seelen in die Finsternis hinab; ihre ausdruckslosen Augen starrten ins Leere. Sie kamen aus derselben Richtung wie ich, dumpfe und hoffnungslose Opfer des Lebens, die sich darauf verlassen hatten, wirklich zu sterben; jetzt füllten sie den rückwärtigen Rand des Gefängnisses, während die Finsternis sich ausbreitete, damit sie Platz hatten. Es war traurig: Sie waren so jung und so tot. Als ich beobachtete, wie sie zu Dutzenden hereinmarschierten, wurde mir gesagt, daß die meisten von denen, die jetzt sterben, zu einem Ort der Finsternis gehen.
Die Hölle ist zwar auch eine bestimmte Dimension, vor allem aber ein Geisteszustand. Wenn wir sterben, sind wir durch das gebunden, was wir denken. Im Leben auf der Erde ist es so, daß unsere Gedanken um so schädlicher sind, je realer sie durch entsprechende Taten werden
- wenn wir der Finsternis erlauben, sich in uns und anderen zu verbreiten. Ich hatte schon in der Hölle gelebt, bevor ich starb, und es nicht erkannt, denn bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich mir das Leben nahm, war ich vielen Konsequenzen entronnen. Wenn wir sterben, wird unsere geistige Verfassung sehr viel deutlicher, denn wir werden mit denen zusammengetan, die so denken wie wir. Diese Anordnung ist vollkommen natürlich und folgt aus dem Lebensstil, zu dem wir uns in dieser Welt entschieden haben. Im ewigen Plan der Schöpfung ist unsere Zeit auf Erden nur ein Augenblick, und doch ist sie ein entscheidender Augenblick der Wahrheit, ein Wendepunkt. Sie bestimmt, wie unsere Seele für alle Zeiten existiert, in der Zukunft und in der Vergangenheit.
Mit jedem Lichtpartikel, den ich annahm, gehörte ich weniger zum Bereich der Finsternis. Ich hatte nicht gespürt, wie ich von der Oberfläche abgehoben hatte, aber jetzt schwebte ich über dem Feld der Finsternis und hinein in das Reich der huschenden Geister des Lichts. An diesem Punkt muß ich erkannt haben, daß ich dabei war, ins Leben zurückzukehren, denn ich hatte Angst. Ich bezweifelte immer noch, daß ich leben konnte, ohne anderen nicht wiedergutzumachende Schäden zuzufügen. Aber mir wurde nachdrücklich gesagt, daß meine Vergangenheit
- die Verletzungen, die ich mein ganzes Leben hindurch erlitten hatte und die ich meinerseits Richard und den Jungen angetan hatte - jetzt keine Rolle mehr spielte. Mir wurde gesagt, daß ich von jetzt an nur noch die Gebote zu befolgen brauchte. Es war einfach, denn wir alle gehorchen. Die entscheidende Frage ist nur, wem.
Ich spürte das Drängen der Geistwesen, die umherhasteten, um das Werk Gottes auszuführen. Mir wurde dann gesagt, daß wir uns in den letzten Augenblicken vor der Rückkehr des Heilands auf die Erde befinden.

Mir wurde gesagt, der Kampf zwischen Licht und Finsternis auf Erden sei so heftig geworden, daß die Finsternis uns vernichten wird und wir verloren sein werden, wenn wir nicht beständig das Licht suchen. Mir wurde nicht mitgeteilt, wann es geschehen wird, aber ich verstand, daß die Erde auf das zweite Kommen Christi vorbereitet wird. Ich sah auf die bemitleidenswerten Seelen hinunter und erkannte, daß ich nicht mehr so empfand wie sie. Ich wollte leben.
Dann kam die mächtige Energiequelle, die mich in das dunkle Gefängnis transportiert hatte, zurück, um mich zu befreien. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte ich das Gefühl zu stürzen. Die Finsternis raste vorbei, und plötzlich war ich wieder in meinem Körper und lag auf der Couch. Als ich meine Lungen mit Luft füllte, wurde ich unversehens an den körperlichen Schmerz erinnert; mein Magen tat weh, in meinem Kopf hämmerte es, und ich fühlte mich wieder schwer und schwach. Aber ich war überwältigt von demütiger Dankbarkeit. Mir war ein warnender Blick auf mein Schicksal gestattet worden; und dann plötzlich verstand ich, daß mir eine zweite Chance gewährt worden war.

Kapitel 19
Die Haustür ging auf und erfüllte das Wohnzimmer mit willkommenem Licht. Der leichte Vorhang nahm den Windhauch auf, ein Kontrapunkt zu Richards festem Schritt, als er durch den Flur ging. Seine Silhouette zerstreute das helle Sonnenlicht. Die Auswirkungen der Medikamente, die ich genommen hatte, zeigten sich, als ich die Füße auf den Boden schwang und mich aufsetzte. Richard, der ins Wohnzimmer kam, setzte sich auf die Lehne des Zweiersofas, und ich sagte: »Das glaubst du mir nie.«
Sein erstaunter, anteilnehmender Blick sagte mir, daß er es vielleicht doch tun würde.
Trotz meiner Aufregung war meine Sprache langsam und zäh, als ich versuchte, ihm sacht von dem Schrecklichen zu erzählen, das ich getan hatte. Er mußte gespürt haben, daß ich in großer Not gewesen war, denn bei der Nachricht nickte er nur. Sein Gesicht war blaß, als er von dem Zweiersofa auf die Couch wechselte. »Geht's dir gut? Sollen wir dich nicht ins Krankenhaus bringen?« fragte er.
Aber Gott sprach durch sein Licht immer noch zu mir. Ich wußte, daß dies nicht notwendig war. Gott hatte mich dem Leben zurückgegeben. Und ich wußte, daß es mir mehr schaden als nützen würde. Da ich die abhängige Frau eines Offiziers der Luftwaffe war, konnte das Militär mich in die USA zurückschicken. Es würde schwer sein, sie davon zu überzeugen, daß ich keine Gefahr mehr für mich selbst war und meine Familie jetzt vor allem zusammensein mußte. Ich war gezwungen, die Medikamente auszuschwitzen, aber sie würden mir nicht dauerhaft schaden.
»Sieh mich an, Richard«, sagte ich ihm. »Mir geht es gut. Es wäre eine Katastrophe, wenn das auf den Dienstweg gelangte.«
Sobald er über den ersten Schock hinweg war, erzählte ich ihm von meiner Reise. Dabei bemerkte ich als erstes, daß die meisten wiederhergestellten Erinnerungen mir genommen worden waren. In der neuen, erweiterten Form fielen mir nur noch die allerersten Erinnerungen ein: meine Geburt, daß ich von meiner Mutter gewiegt wurde und ein paar Glanzpunkte aus meiner frühen Kindheit. Hinsichtlich der übrigen Ereignisse meines Lebens waren mir nur die Einzelheiten geblieben, an die ich mich schon vor meinem Tod hatte erinnern können. Auch diese Ereignisse erschienen ein bißchen abgeschwächt, wie Informationen, die ich vor Jahren aus einem Lehrbuch gelernt hatte. Ich konnte mich an die groben Linien erinnern, aber nicht an viele Fakten.
Als ich begann, Richard von meiner Reise in die Welt der dunklen Geister zu erzählen, wurde mir bewußt, daß die Fähigkeit, Finsternis und Licht zu sehen, mir geblieben war. Überall sah ich kleine Energiepartikel. Ich hatte das Gefühl, als könnte ich mit der Hand durch die Wand gehen und die Moleküle würden sich voneinander trennen, wenn ich es wollte. Um meine Topfpflanzen war sichtlich ein Leuchten. Richard besaß eine große Aura von Energie.
Als ich diese Energie sah, spürte ich die Anwesenheit Gottes in allem, was im Zimmer war. Ich sah, daß der Zweck jeden Gegenstands darin bestand, Gott zu verehren, indem er uns diente
- die Bücher, das Bücherregal, die Kissen auf der Couch und dem Zweiersofa. Alles reagierte auf Gottes Stimme und pries ihn auf der ihm gemäßen Ebene. Und ich erkannte, daß diese Energie ihr wahres Wesen war, daß ihre materielle Beschaffenheit nicht so wichtig war wie das Licht, das sie enthielten.
Jetzt öffnete ich mich Richard zum erstenmal seit vielen Jahren und sagte ihm, ich hätte mein Verhalten einfach nicht steuern können. Die Worte, die ich sagen mußte, fielen mir mit kristalliner Klarheit sofort ein. Sobald ich die Worte ausgesprochen hatte, füllte mein Geist sich mit Licht. Ich erkannte plötzlich, wie lange ich gefangen gewesen war -
und warum.
Genauso real wie Gott und Jesus Christus existiert ein Wesen der Finsternis, Satan. Er hat Konklaven dunkler Engel, und wir sind ihre Beute. Ich begriff, daß diese dunklen Geister mich umgeben, in meinem Haus überhandgenommen und meine gesamte Familie in Mitleidenschaft gezogen hatten. Jetzt war mir alles klar. Ich hatte sie eingeladen, damit sie Chaos und Hader verbreiten konnten. Ich war so mit Finsternis angefüllt gewesen, daß ich die böse Gesellschaft, die ich unterhielt, leugnete.
Ich sah, daß die Musik, die mir gefallen hatte, direkt von Satan und seinen Engeln inspiriert war, daß die schweren, dumpfen Melodien und die pulsierenden Schläge meinen Verstand fast andauernd mit Finsternis gefüllt hatten. Wahrheitsfeindliche Botschaften waren in mich hereingepumpt worden und hatten mein Denken und Tun beeinflußt. Und ich hatte nicht nur zugehört, ich hatte getanzt.
Dann öffnete sich die Tür noch einmal. »Mama, geht es dir jetzt besser?« kam die süße Stimme von Alex. Jacobs goldenes Haar hüpfte auf und ab, als er hinter Alex hereinstapfte und sich in meinen Schoß warf. Ich nahm ihn hoch, während Alex seine Arme um meinen Hals schlang. Ich hielt meine Jungen fest und betete im stillen: »Ich danke dir.«
Nach den Jungen kam meine Freundin Jennifer herein; als sie mich sah, blieb sie wie angewurzelt stehen. »Angie, du siehst schrecklich aus«, sagte sie. »Kann ich irgend etwas für dich tun? Soll ich dir die Jungen abnehmen?«
»Nein, es geht mir gut, aber ich muß mit dir reden«, sagte ich. Während Richard die Jungen in die Küche führte, um das Abendessen zuzubereiten, half Jennifer mir die Treppe hinauf.
Wir setzten uns zusammen auf mein Bett, und sie untersuchte meine verschorften Handgelenke. Dann erzählte ich ihr von meinem Erlebnis. Sie umarmte mich und sagte: »Das ist unglaublich. Geht es dir wirklich gut? Du hättest mich rufen sollen.
«
»Ich weiß, ich weiß, ich kann nicht glauben, daß ich etwas so Dummes getan habe«, sagte ich.
Sie drängte mich, ins Krankenhaus zu gehen, aber ich weigerte mich und sprach von meiner Angst, zurückgeschickt zu werden.
»Ja, wahrscheinlich hast du recht. Und irgendwie würde es in Richards Akte heißen, daß er eine Verrückte zur Frau hat.
«
Als ich sie dann weiter über die Einzelheiten meiner Reise informierte, wurde ich von neuen Offenbarungen überschwemmt. Ich sah noch deutlicher, daß ich eine Marionette Satans gewesen wat Es gibt zwar Gegensätze - Licht und Finsternis, Wahrheit und Täuschung, Liebe und Haß -‚ aber auch eine Unzahl von Möglichkeiten dazwischen, Verdrehungen und Verzerrungen der Wahrheit, die aus Finsternis bestehen. Die Liebe ist das Wichtigste, was wir in dieser Welt lernen sollen, und doch hatte Satan diese einfache Wahrheit verdreht und mich überredet, im Namen der Liebe zu meinem Mann und meinen Kindern eine schreckliche Tat der Finsternis zu begehen. Wie konnte es die Liebe sein, die mich drängte, sie zu verlassen, ohne überhaupt zu überlegen, welche Auswirkungen die Entdeckung meines toten Körpers im Haus auf sie haben könnte?
Der Selbstmord war das Egoistischste, was ich hatte tun können. Er war eitel und entstammte der Überzeugung, daß ich mich niemandem öffnen konnte, daß ich meine Probleme allein lösen mußte. Das waren die Lügen Satans.
Gott liebt uns und ruft uns zu sich. Er kann uns nicht zwingen, uns für das Licht zu entscheiden.
Als ich über diese Dinge nachdachte, entstand in mir eine mächtige Energie, die mir bestätigte, daß meine neuen Einsichten richtig waren. Und die Offenbarungen gingen weiter: Ich sah jetzt, daß ich nie gezwungen worden war, in diese Welt zu kommen. Ich sah, daß ich vor meiner Geburt wußte, vor was ich stehen würde, und daß ich mit Gott zusammen das Drehbuch für den Verlauf meines Lebens geschrieben hatte. Ich wußte, daß Verwirrung und Kummer meine Begleiter sein würden. Ich wählte meine Eltern und sogar verschiedene Freunde, bevor ich auf die Erde kam. Die Möglichkeit, ein einfacheres Leben zu haben, stand mir immer offen, aber ich bot mich freiwillig an, ich opferte mich, denn ich liebte die Menschen, die meine Familie werden sollten, und wollte mit ihnen zusammensein. Ich wußte, was mich erwartete, und trotzdem entschied ich mich zu kommen. Diese Entscheidung treffen wir alle.
Ich erkannte auch, daß Gott mir Helfer geschickt hatte
- selbst in den Zeiten, in denen ich jegliche Verbindung zu ihm abbrach. Eine Lehrerin in der Sonntagsschule hatte meinem Sohn das Beten beigebracht, und wegen des Glaubens meines Vierjährigen überlebte meine Familie im Gegensatz zu vielen anderen. Ich war dieser Frau nie begegnet, und sie hatte wahrscheinlich keine Ahnung, daß ihre einfache Tat christlicher Nächstenliebe - kleine Jungen und Mädchen eine Stunde in der Woche unterrichten - Gutes bewirkte. Und doch werden die Folgen ihrer kleinen Freundlichkeit für alle Zeiten verspürt werden.
Später erhielt ich einen klaren Beweis für diese Folgen. Ungefähr ein Jahr nach meinem Selbstmordversuch sahen Alex und Jacob einen Zeichentrickfilm, in dem ein Kaninchen vorkommt, das eine Vision hat: Es würde etwas Schreckliches passieren, wenn alle Kaninchen nicht sofort ihr Gehege verließen. Alex verstand nicht, warum das Kaninchen sich auf dem Boden rollte, und deshalb erklärte Richard, was eine Vision ist.
Alex sagte darauf: »Ich habe manchmal Visionen. Aber nicht immer.«
Ich korrigierte ihn sanft und erklärte ihm, daß es etwas anderes ist, ob man sich die Zukunft vorstellt oder ob man eine Vision von ihr hat.
»Nein«, antwortete Alex, »als wir noch in Amerika waren, hatte ich eine Vision. Ich sah, daß wir zu einem weit entfernten Ort gingen, wo eine Kirche war, und Freunde, und ein neuer Ort, an dem unsere Familie sich wohl fühlen würde.«
Jetzt griff Richard ein und erinnerte Alex daran, daß er eine lebhafte Phantasie hatte, was nicht dasselbe wie eine Vision sei.
Aber Alex ließ sich nicht beirren. »Ich hatte eine Vision. Ich habe viele Leute singen gesehen«, sagte er. In diesem Augenblick spürte ich einen Energiestoß und die Gewißheit, daß seine Worte wahr waren. Der »neue Ort«, den Alex gesehen hatte, war Okinawa gewesen, das für meine Familie zum heiligen Ort der Heilung wurde. Hier traten meine besten Freunde in unser Leben. Und die Unterstützung meiner Kirchengemeinde -
wahrscheinlich die Leute, die Alex singen gesehen hatte - gab mir Kraft und Vertrauen.

Was Gott und sein Sohn mich bei meiner Reise lehrten, machte mich nicht vollkommen. Im Lauf der Jahre habe ich weiter gekämpft. Dieses Leben ist schwer. Es ist immer schwer, aber ich bin jetzt eine sehr viel aufmerksamere Schülerin. In den Jahren seit meinem Erlebnis habe ich das Wort Gottes beständig und intensiv studiert. Ich versuche Dinge auszusuchen, die aus Licht bestehen, und umgebe mich mit einer Musik, die meinen Verstand für den Geist Gottes öffnet. Ich suche die Vergebung der Menschen, die ich verletzt habe, damit meine Schwäche sie weniger behindert. Ich knie mich oft zum Gebet nieder und stelle fest, daß dies mich beruhigt, denn wenn ich aufnahmebereit bin, zeigt es mir, daß der Schmerz in meinem Leben einen Sinn hat. Das Leid ist oft der Preis, den wir bezahlen, so daß wir den Wunsch haben, anderen zu helfen. Wenn diese Motivation, von uns selbst etwas zu geben, zu Taten führt, nimmt im Austausch gegen unseren Dienst an anderen das Licht zu. Dieses Licht zeigt sich als wahres Glück und wahrer Frieden.
Die Auswirkungen des vermehrten Lichts in meiner Familie zeigen sich oft auf ergreifende Weise. Bevor ich zum Beispiel Alex abends ins Bett packe, knien wir uns zusammen hin und beten. Eines Abends bedrückte ihn irgend etwas, und ich fragte ihn danach.
»Mama«, sagte er, »wie kommt es, daß ich Gott nicht sehen kann?«
»Gott wohnt im Himmel«, erklärte ich, »aber das bedeutet nicht, daß er nicht ständig bei dir ist.«
»Und wenn man etwas wirklich Wichtiges braucht?« fragte er.
»Dafür beten wir, Alex. Wir reden mit Gott. Du kannst ihm sagen, welches Problem du hast, und um seine Hilfe bitten, und er gibt sie dir.«
Nachdem ich eine Weile nachgeforscht hatte, erfuhr ich schließlich, daß er Hilfe beim Umgang mit einem Jungen aus der Nachbarschaft brauchte, der ihn schikanierte.
»Er schlägt mich mit einem Stock und beschimpft mich«, bekannte Alex. »Er läßt mich auch nicht mit den anderen Kindern spielen.« Dann begann er zu weinen.
Jacob stapfte herein und ging auf die Spielzeugkiste zu.
»Ich bringe nur eben Jacob in sein Zimmer, und dann reden wir darüber, ja, mein Schatz?« sagte ich, während ich Jacob aufnahm.
»Ja, Mama.«
Nachdem ich mit Jacob ein paar Minuten im Schaukelstuhl gesessen hatte, hörte ich, wie Alex aufstand; die Laken raschelten leise, als er aus dem Bett schlüpfte. Als Jacob eingeschlafen war, hörte ich, wie Alex ehrfürchtig betete. Ich kam in sein Zimmer, da war er bereits In sein Bett zurückgeklettert.
»Und, wie war's?« fragte Ich.
»Einfach toll«, sagte Alex. »Gott hat mir gesagt, daß Ich für Jerome beten soll, damit jeder, der gemein zu ihm ist, damit aufhört. Er sagte, daß ich dich holen soll, wenn Jerome gemein zu mir ist.«
Der Geist Gottes flüsterte eine Beteuerung, daß mein Sohn wIrklIch eine Antwort auf sein Gebet erhalten hatte.

Kapitel 20
Als Folge davon, daß ich meinen Geist für das Licht Gottes geöffnet hatte, erlebte ich in meinem Leben gewaltige Veränderungen. Ich gehe mit Herausforderungen mit neuer Hoffnung und Vertrauen um. Ich weiß jetzt, daß ich mein Schicksal wählen kann und den Ereignissen der Vergangenheit nicht zu erlauben brauche, mein Leben zu bestimmen. Als ich von der Finsternis ins Licht gegangen war, wurde mir sofort klar, daß mich während meines jahrelangen Mißbrauchs die Angst in den Fängen Satans festgehalten hatte. Ein Überbleibsel dieser Angst war ein miserables Selbstwertgefühl. Die Angst, ausgelacht zu werden, und die Angst vor der Mittelmäßigkeit überzeugten mich, meine mir von Gott gegebenen Talente zu verstecken.
Zu diesen Talenten gehört, daß ich ebenso wie meine Schwester Toni gut singen kann. Während eines Sonntagsgottesdienstes hatten wir einmal ein Duett vorgetragen, das schiefgegangen war. Als wir aufstanden, um zu singen, begann meine Wange nervös zu zucken, was Toni ziemlich lustig fand. Sie war genauso nervös wie ich und brach in unbeherrschtes Gelächter aus. Da Toni sich vornüberbeugte, um ihre Fassung zurückzugewinnen, mußte ich mich allein durch die demütigendsten zwei Minuten meines jungen Lebens singen. Danach beschloß ich, nie wieder in der Öffentlichkeit zu singen.
Ungefähr ein Jahr nach meiner Erfahrung mit dem Tod entdeckte eine gute Freundin von mir, die die Musik genauso leidenschaftlich liebte wie ich, wie ich beim Saubermachen eine Opernarie sang. Als begabte Violinistin überredete sie mich, mit ihr ein Duett vorzubereiten, das in der Kirche vorgetragen werden sollte. Wir übten monatelang, und ich zögerte die Sache hinaus. Schließlich brachte ich den Mut auf, einen Termin für unsere Vorstellung festzulegen; die Tatsache, daß meine Freundin sich ebenfalls exponieren würde, tröstete mich etwas. Und raten Sie, was passierte? Alles ging gut!
Die Folge war, daß ich gebeten wurde, in einem speziellen Gottesdienst zu singen; man warnte mich gleich, daß ich mit der Pianistin erst am Abend des Auftritts würde üben können. Ich zögerte, sagte aber schließlich zu.
Na, an diesem Abend ging alles schief. Die Pianistin und ich kamen spät an, und unsere Übungssession war schrecklich. Sie schlug ständig falsche Noten an, und meine Stimme klemmte vor lauter Nervosität. Als wir anfangen sollten, hatte ich einen riesigen Kloß in der Kehle, und mein Magen war hart vor Anspannung. Im stillen flehte ich Gott an, mir zu helfen, mich so weit zu beruhigen, daß ich meine Sache gut machen würde. Aber die Entspannung blieb aus.
Schließlich beugte ich mich vor, um dem Kirchenvorsteher zuzuflüstern, daß ich an diesem Abend einfach nicht singen konnte. Aber dann sagte eine Stimme in meinem Kopf: »Es wäre egoistisch von dir, nein zu sagen.« Plötzlich war ich mit ruhiger Gelassenheit erfüllt, und ich sang fast genauso ungezwungen wie zu Hause beim Abspülen.
Ungefähr um diese Zeit herum packte mich wieder der »Zyklus«. Schon ein paar Monate nach meiner Erfahrung mit dem Tod strömten mir lange verdrängte Kindheitserinnerungen zu und bedrohten meine neue Sicherheit. Ich dachte, ich würde an dem Schmerz sterben, als diese Visionen aus meiner Kindheit wiederkamen. Als ich auf die Parade der Ungerechtigkeiten reagierte, spürte ich den Druck der Vergangenheit
-Abhängigkeiten, das Bedürfnis zu fliehen -und ich begann, um mein spirituelles Wohlergehen zu fürchten. Es war für mich die reine Qual, denn ich wußte, daß ich durch diese schmerzlichen Erinnerungen hin-durchgehen, mich aber diesmal auf Gott verlassen mußte. Als ich die Wellen vergangener und gegenwärtiger Pein ertrug, brauchte ich die ganze Energie, die ich hatte, um stark zu sein.
Ich wartete, bis meine Familie zu Bett gegangen war, damit ich ungestört war, bevor ich die Bibel öffnete. Die Worte, die mich sonst beruhigt und getröstet hatten, erreichten diesmal die klaffende Wunde in meinen Gefühlen kaum. Nachdem ich mein Herz im Gebet ausgeschüttet und um Hilfe und Anleitung gebetet hatte, ging ich ins Bett, wo ich neben meinem schlafenden Mann wach lag und in mein Kissen schluchzte.
Ich sehnte mich nach der Liebe und Geborgenheit, die mich während meines Besuchs bei Gottvater und seinem Sohn Jesus Christus so vollständig erfüllt hatten; plötzlich spürte ich, wie eine winzige Hand mir sanft über den Rücken strich. Ruhiger Friede erfüllte mich. Ich glaube, daß die Berührung von einem Boten des Lichts kam, der mich schon seit vielen Jahren zu trösten versuchte. Aber erst in diesem Augenblick demütigen Flehens war ich für ihn erreichbar gewesen.
Die unleugbare Wahrheit lautet, daß der Tod nur ein Übergang ist. Das weiß ich jetzt sicher. Er ist eine vorübergehende Veränderung. ln unserer unruhigen Welt gibt es so viel Leid und Wut, daß sie für manche kaum zu ertragen sind; aber in dem Augenblick, in dem wir ins nächste Leben wechseln, löst der Schmerz dieser Welt sich auf. Es ist, als würde man aus einem Alptraum erwachen. Was so real und erschreckend schien, ist im Nu vorbei und vergessen -
falls wir die Dinge nicht selbst in die Hand nehmen. Dann wachen wir auf und stellen fest, daß die Monster real sind. Die Hölle ist real und sehr viel schrecklicher, als wir uns vorstellen können.
Die absolute, allumfassende Liebe, die ich spürte, als ich dort im Licht stand, lehrte mich, daß das Leben gut ist, egal, was wir durchmachen müssen. Es ist ein Geschenk Gottes, der uns liebt. Er stärkt uns mit ermutigenden Worten, aber wir müssen offen für sie sein. Er sendet Boten
- Menschen und Geistwesen -die uns helfen können, aber wir müssen sie erkennen.
Gleich nach meinem Erlebnis suchte ich qualifizierte, lichtvolle, professionelle Hilfe. Zum Glück tat mein Berater meine Erfahrung nicht als Halluzination ab. Er verstand die Kraft von Finsternis und Licht. Für die freundliche und unterstützende Anleitung bei der Überwindung der Verwüstungen, die die Finsternis in meinem Leben angerichtet hatte, werde ich immer dankbar sein.
Letztendlich war es die persönliche Tragödie, die mich lehrte, zu lieben und zu geben. Aufgrund meiner Prüfungen habe ich Stärken und Talente entwickelt, die mich befähigt haben, den Menschen um mich herum zu helfen. Der Gedanke schockiert mich, daß ich das, was mir am wertvollsten ist, fast aufgegeben hätte, daß ich das Risiko eingegangen bin, dem Schicksal geliebter Menschen zu schaden, sie mit derselben Finsternis zu bedrohen, in der ich meinen Geist gefangen hatte. Wenn ich heute aufwache, bin ich jeden Tag glücklich, daß ich noch eine Chance zum Leben erhalten habe, und dankbar, daß mir gezeigt wurde, wie ich Verzweiflung in Hoffnung, Wahrheit und Licht verwandeln kann. Das, nicht die Abwesenheit von Schmerz, ist wahre Freude.


Epilog
In den Jahren seit dem Januar, in dem ich meinen Selbstmordversuch unternahm, habe ich meine Geschichte von Zeit zu Zeit ein paar guten Freunden mitgeteilt; im allgemeinen jedoch habe ich diese heilige Erfahrung für mich behalten. Aber ein paar Monate nachdem ich von Okinawa in die USA zurückgekehrt war, bemerkte ich einen gefärlichen Trend. Wunderschöne Geschichten über die Liebe und das Licht, welche diejenigen willkommen hießen, die in den Tod gingen und zurückkamen, um von ihm zu erzählen, waren das Thema fast jeder Talk-Show. Diese Berichte haben unser Wissen vom »Leben nach dem Leben« enorm vermehrt, und ich bin dankbar, daß viele den Mut hatten, ihre Erfahrung mitzuteilen. Gleichzeitig haben wir jedoch gesehen, daß Politiker, Rockstars, Ärzte und sogar Kinder den Selbstmord als eine Art Heldentod verstanden haben. Ich begann zu befürchten, daß die Menschen ohne einen Hinweis auf die andere Seite der Nah-Todeserfahrung diese wunderschönen Berichte so interpretieren könnten, als ob ein Selbstmord sie von ihren Problemen befreien könnte.
Wie ich erfahren habe, ist nichts von der Wahrheit weiter entfernt.
Trotzdem hatte ich immer noch Widerstände dagegen, meine Geschichte zu erzählen. Mir war klar, daß manche Leute sie mit Skepsis und sogar Argwohn betrachten würden; und sie würde von mir verlangen, einige der schmerzlichsten und privatesten Details meines Lebens preiszugeben. Mit der Zeit jedoch war es mir unmöglich, weiter zu schweigen.
Ich hoffe, ich kann durch meine Erfahrung Menschen helfen, die tröstliche Tatsache zu akzeptieren, daß der Tod nur ein Übergang ist -
daß wir ewig sind und für alle Zeiten leben. Und ich hoffe, sie erkennen, daß wir nur zwei Richtungen einschlagen können: Entweder wir entwickeln uns aus unserer unvollkommenen Existenz auf Erden heraus, oder wir nehmen unser irdisches Gepäck mit. So oder so müssen wir all die schwierigen Lektionen lernen, die das Leben uns präsentiert. Schließlich wünsche ich sehr, daß alle, die dieses Buch lesen, in ihm eine Quelle der Hoffnung sehen und den Mut zum Leben finden. Denn wie ich mit eigenen Augen sehen durfte, ist Gott immer bei uns. In der Bibel heißt es: »Muß ich auch wandern in finsterer Schlucht ..., du bist bei mir.« Auch durch die tiefste Finsternis braucht niemand von uns allein zu gehen, wenn er nur bereit ist zu glauben.