Quellenangabe: Tageszeitung "junge Welt", http://jungewelt.de/2005/11-10/004.php
10.11.2005 / Thema / Seite 10

Plamegate erschüttert Weißes Haus
Der jüngste Geheimdienstskandal um die Enttarnung einer CIA-Agentin durch hochrangige Mitarbeiter der Bush-Administration droht die US-Regierung in die schwerste Krise ihrer Amtszeit zu stürzen
Rainer Rupp

Über zwei Jahre hatte die Zeitbombe im Weißen Haus getickt, bis sie schließlich am 28. Oktober 2005 mit einem lauten Medienknall explodierte. An diesem mit Spannung erwarteten Tag gab der Sonderermittler des US-Bundesjustizministeriums Patrick Fitzgerald in einer Pressekonferenz kurz und knapp bekannt, dass die Grand Jury von Washington D.C. gegen Lewis Libby, auch bekannt als "Scooter Libby", Stabschef von Vizepräsident Richard Cheney in fünf Fällen (die die Straftatbestände Falschaussage, Meineid und Behinderung der Justiz betreffen) Anklage erhoben hat. Zugleich wurde öffentlich, dass gegen Karl Rove, den engsten Vertrauten von Präsident George W. Bush, weiter ermittelt wird. Damit hatte die seit 2003 schwelende Affäre um die Enttarnung einer verdeckt arbeitenden CIA-Mitarbeiterin trotz aller Vertuschungsversuche der Spitzenleute im Weißen Haus ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht.

Eine Steigerung darf jedoch erwartet werden, denn eine Reihe weiterer Mitglieder des Führungspersonals im Weißen Haus und im Pentagon scheint ebenfalls in die Sache verwickelt zu sein, und sie sollen zumindest als Zeugen vor die Grand Jury gerufen werden. Damit aber steht fest, dass die schmutzige Wäsche der Bush-Administration unter großer Medienaufmerksamkeit über viele Wochen vor aller Öffentlichkeit gewaschen werden wird - mit unabsehbarem Schaden für die Regierung. Ähnlich wie die Watergate-Affäre ist die nach der betroffenen CIA-Agentin benannte Plamegate-Affäre von einer enormen Brisanz. Der Skandal droht nicht nur die Glaubwürdigkeit der Bush-Administration, sondern auch ihre hohen moralischen Ansprüche in den Augen der Öffentlichkeit restlos zu zerstören und etliche der Spitzenleute im Weißen Haus hinter Gitter zu bringen.


Mit Lügen in den Krieg
Was eigentlich verbirgt sich genau hinter der Plamegate-Affäre? Vordergründig geht es um die Enttarnung der verdeckt arbeitenden CIA-Agentin Valerie Plame-Wilson durch hochrangige Mitarbeiter des Weißen Hauses. Die Aufdeckung von Geheimdienstmitarbeitern wird in den USA als Straftat geahndet. Tatsächlich geht es jedoch in erster Linie um die erlogenen Geschichten über alarmierende Geheimdienstberichte zu Saddam Husseins angeblichen Massenvernichtungswaffen, die eine kleine neokonservative Clique im innersten Kreis des Weißen Hauses verbreitet hat, um den Krieg gegen Irak zu rechtfertigen. Die - an den etablierten Geheimdiensten vorbeigeschleusten - Dokumente sollten dem Kongress und der US-amerikanischen Öffentlichkeit die absolute Notwendigkeit eines Krieges gegen Irak deutlich machen.

Diese Clique von Neokonservativen, deren Vorgehen der ehemalige Stabschef von US-Außenminister Colin Powell und Exoberst der US-Army, Lawrence Wilkerson, kürzlich als "Cheney-Rumsfeld-Intrige" (cabal) bezeichnete, hatte jeden, der es wagte, Zweifel an ihrem Vorgehen anzumelden, mit arglistigen und teils illegalen Mitteln abgestraft. Opfer einer solchen Abstrafung waren im Jahr 2003 Ex-US-Botschafter Joseph Wilson und seine Ehefrau Valerie Plame-Wilson geworden, nachdem Wilson gefälschte "Beweise" des Weißen Hauses über angebliche nukleare Massenvernichtungswaffen im Irak öffentlich entlarvt hatte.

Mitte Oktober 2005 beschuldigte Lawrence Wilkerson vor der illustren Gesellschaft der Washingtoner Denkfabrik New America Foundation US-Vizepräsident Cheney und Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, dass sie im Anschluss an den 11. September 2001 gemeinsam mit einer Handvoll hochrangiger Mitarbeiter auf konspirative Art und Weise dem von Colin Powell geführten State Department den außenpolitischen Entscheidungsapparat entrissen hätten. Die Verschwörer der "Cheney-Rumsfeld-Intrige" hätten an etablierten Regierungsstellen und an den US-Nachrichtendiensten vorbei eine geheime Kriegspolitik durchgesetzt. Nun müsse die geschwächte und politisch isolierte US-Nation teuer dafür bezahlen, sagte Wilkerson und warnte, dass die Gefahr noch nicht vorüber sei. Seine Zuhörer forderte er auf, diese verbrecherischen Elemente in der Bush-Administration zu stoppen, "sonst spielen wir mit der Katastrophe".

Worauf sich Mr. Wilkerson konkret bezog, lässt sich am Beispiel der Rede zur Nation nachzeichnen, die Präsident Bush am 28. Januar 2003 gehalten hat. In dieser Ansprache hatte Bush als wichtigsten Beweis für Saddam Husseins Atombombenpläne den folgenschweren Satz gesagt: "Die britische Regierung hat erfahren, dass Saddam Hussein in letzter Zeit versucht hat, in Afrika bedeutende Mengen von Uran zu kaufen." (Im englischsprachigen Raum ist von den berühmten "16 Worten" Bushs die Rede: "The British government has learned that Saddam Hussein recently sought significant quantities of uranium from Africa.") Ein halbes Jahr später - die US-Truppen hatten Irak längst erobert und kein Programm für Massenvernichtungswaffen gefunden - meldete sich CIA- Direktor George Tenet in der Uransache zu Wort. Am 11. Juli 2003 erklärte er, dass dieser Bericht von der CIA von Anfang an angezweifelt worden sei. Es sei ein schwerer Fehler gewesen, die Passage in Bushs Rede zur Nation aufzunehmen. Dafür übernahm er persönlich die Verantwortung und trat zurück.

Wie konnte es zu solch einer Panne kommen? Oder war es gar keine Panne, sondern vielmehr das Werk der neokonservativen Clique um Cheney und Rumsfeld? Die hatte inzwischen ihren Krieg bekommen, und Irak war besetzt. Für die gemachten "Fehler" bei der Einschätzung der angeblichen Bedrohung durch Iraks Massenvernichtungswaffen machte die Kamarilla die schlechte Arbeit der CIA und der anderen US-Geheimdienste verantwortlich. Und fast wären die verlogenen Kriegstreiber im Weißen Haus damit auch durchgekommen, wären da eben nicht Valerie Plame-Wilson und ihr Ehemann Joseph Wilson gewesen.

Valerie Plame-Wilson arbeitete seit zwanzig Jahren verdeckt für die CIA. Nach außen hin war sie Spitzenberaterin in Atomenergiefragen und reiste für ein privates US-Consulting-Unternehmen rund um die Welt, von Konferenz zu Konferenz. Dabei machte sie Bekanntschaften und schloss Freundschaften mit internationalen Spitzenleuten aus der Atomenergiebranche. Insgeheim aber war sie für die CIA-Abteilung tätig, deren Auftrag darin bestand, die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen zu verhindern.

Im Jahr 2002 zeigt sich Washington wegen der Nachricht, dass Saddam Hussein angeblich größere Mengen von "Yellow Cake", angereichertem Uran, im afrikanischen Staat Niger kaufte, äußerst beunruhigt. Und das Weiße Haus tat alles, um die "akute Bedrohung" über unkritische und willige Journalisten wie Judith Miller, Starreporterin der New York Times, die ebenfalls in die Plamegate-Affäre verwickelt ist, in die Öffentlichkeit zu bringen, um so die Kriegsstimmung im Land anzuheizen. Vizepräsident Cheney, der sich besonders hervortat, ständig vor der irakischen Bedrohung zu warnen, erhöhte seinen Druck auf die CIA und forderte eine offizielle Bestätigung der "Yellow Cake"-Berichte aus Niger. Auf diese Weise kam auch die Abteilung von Valerie Plame-Wilson ins Spiel.

Gefälschte Dokumente
In deren Ressort stand man den angeblichen Regierungsdokumenten aus Niger über irakische Urankäufe jedoch höchst skeptisch gegenüber, denn man wusste, dass das Uran in dem afrikanischen Land unter strengsten Sicherheitsmaßnahmen von einem französischen Staatsunternehmen abgebaut und exportiert wurde und eine illegale Abzweigung selbst geringer Mengen so gut wie ausgeschlossen war. Was das Mißtrauen verstärkte, war der Umstand, dass die angeblichen Regierungsdokumente aus Niger aus der italienischen Hauptstadt Rom über dubiose Kanäle an den normalen US-Geheimdienststrukturen vorbei direkt in die Hände der neokonservativen Spitzenleute im Weißen Haus und im Pentagon gelangt waren. Unter Berufung auf Cheneys Forderung, die "Yellow Cake"-Geschichte aufzuklären, schlug Plame-Wilson ihrem Abteilungsleiter vor, einen anerkannten Experten in Sachen Irak und Niger, nämlich ihren Ehemann, Ex-US-Botschafter Joseph Wilson, in das afrikanische Land zu schicken, wo dieser über beste persönliche Beziehungen zu höchsten Stellen verfügte.

Ohne Wissen von CIA-Chef George Tenet oder Richard Cheney und seine neokonservative Clique machte sich Botschafter Wilson auf den Weg nach Niger. Nach seiner Rückkehr entlarvte er in seinem Bericht für die CIA die Geschichte über den angeblichen irakischen Urankauf als Lüge. Aber von seinen Feststellungen wurde weder im Weißen Haus noch an der politischen Spitze der CIA Notiz genommen, obwohl deren Richtigkeit inzwischen auch durch Experten der Internationalen Atomenergieagentur IAEA in Wien bestätigt worden war. Die IAEA-Experten hatten die "Yellow Cake"-Dokumente aus Niger einwandfrei als Fälschungen identifiziert und dies auch offiziell erklärt.

Es stellte sich heraus, dass die bei den gefälschten Schriftstücken verwendeten offiziellen Stempel Monate zuvor bei einem mysteriösen Einbruch in der nigrischen Botschaft in Rom gestohlen worden waren. Und die nigrischen Minister, deren Unterschriften auf den Papieren standen, waren zu dem Zeitpunkt, auf den diese datiert waren, längst nicht mehr im Amt. Diese und ähnliche Widersprüche, welche die Dokumente als Fälschungen entlarvten, hatte man, so die IAEA-Experten, innerhalb kürzester Zeit mit einer einfachen Google-Recherche im Internet feststellen können. Aber die Clique um Cheney und Rumsfeld brauchte einen Kriegsgrund und war an der Wahrheit nicht interessiert. So führte dann Präsident Bush in seiner Rede zur Nation vom Januar 2003 die irakischen Urankäufe im Niger als Beweis für Saddam Husseins Atombombenprogramm an.

Schmutzkampagne gegen Wilson
Entrüstet über die Verbreitung kriegstreiberischer Lügen durch das Weiße Haus entschloss Wilson sich zu handeln. Er erzählte seine Geschichte dem Journalisten Nicholas Kristof von der New York Times, der sich in einer Kolumne vom 6. Mai 2003 zum Entsetzen des Weißen Hauses auf die Niger-Reise eines namentlich nicht genannten US-Botschafters im Auftrag der CIA bezog und berichtete, dass die berühmten "16 Worte" in Bushs Rede zur Nation falsch waren und auf gefälschten Dokumenten basierten. Aus der Anklageschrift gegen Lewis (Scooter) Libby, den Stabschef des US-Vizepräsidenten, geht hervor, dass sich Spitzenleute im Weißen Haus sofort daran gemacht haben, herauszufinden, wer dieser Botschafter war, nur um ihn und seinen Bericht anschließend mit einer Schmutzkampagne zu diskreditieren.

Bei seinen Nachforschungen im US-Außenministerium und bei der CIA hatte Libby schnell herausgefunden, welcher Botschafter nach Niger gereist war, und auch, dass dessen Ehefrau in der CIA-Abteilung arbeitete, die Botschafter Wilson den Auftrag dazu gegeben hatte. Als Wilson am 6. Juli dann auch noch einen namentlich gezeichneten Artikel in der New York Times unter dem Titel "Was ich in Afrika nicht gefunden habe" veröffentlichte und die Washington Post am selben Tag einen Artikel über Wilsons Reise nach Niger im Jahr 2002 brachte, entschloss sich die Cheney-Rumsfeld-Kamarilla zurückzuschlagen. Bereits am 8. Juli steckte Libby seiner "Hofjournalistin" Judith Miller, dass Valerie Plame-Wilson bei der CIA arbeite und für die Entsendung ihres Ehemannes nach Niger verantwortlich gewesen sei. Auch andere hochrangige Mitarbeiter des Weißen Hauses, einschließlich des engsten Vertrauten von Präsident Bush, Karl Rove, besprachen das Thema mit "ihren" Hofjournalisten. Dies immer mit dem Ziel, Botschafter Wilson zu unterstellen, dass er seinen angeblich lukrativen CIA-Auftrag nach Niger nicht seiner fachlichen Expertise, sondern der "Vetternwirtschaft" seiner Frau Valerie zu verdanken gehabt habe. Entsprechende Artikel in den US-Medien ließen nicht lange auf sich warten.

Die Tatsache aber, dass bei dieser Schmutzkampagne des Weißen Hauses ein nach US-Gesetz mit Gefängnis zu bestrafendes Verbrechen begangen wurde, nämlich die Enttarnung einer verdeckt arbeitenden CIA-Agentin, sollte für Cheney, Rumsfeld und Co. ungeahnte Folgen haben, zumal die CIA sofort Strafanzeige erstattete und den arbeitswütigen und unerschrockenen Sonderermittler Patrick Fitzgerald auf den Plan brachte, dem man wegen seiner Hartnäckigkeit den Spitznamen "Bulldog" gegeben hat.

Mit Hilfe seiner mit großen Machtbefugnissen ausgestatteten Grand Jury nahm sich Fitzgerald die beiden wichtigsten Strategen im Weißen Haus, Karl Rove und Lewis (Scooter) Libby, vor. Die stritten, ebenso wie die anderen an Plamegate Beteiligten, alles ab und brachten sich dadurch nur in noch größere Schwierigkeiten. Während die Ermittlungen gegen Karl Rove fortgeführt werden, soll Lewis Libby laut Anklageschrift nicht in der eigentlichen "Hauptsache", d. h. der Enttarnung von Valerie Plame-Wilson, zur Verantwortung gezogen werden, sondern wegen "Nebensachen" wie Behinderung der Justiz, Falschaussage und Meineid, die er bei seinen Versuchen, die "Hauptsache" zu vertuschen, begangen haben soll.

In einer Einschätzung des Plamegate sprach die New York Times kürzlich von einer Affäre, bei der es um "juristische und politische Einsätze höchster Ordnung" geht. In der Tat: Wie damals der Watergate-Skandal Präsident Nixon zu Fall gebracht hat, könnte diesmal Plamegate den ohnehin bereits schwer angeschlagenen Präsidenten Bush politisch vollkommen ins abseits stellen. Denn schon die Anklageschrift gegen Lewis Libby enthüllt nicht nur, mit welch skrupellosen und schmutzigen Tricks das Weiße Haus die US-Nation in einen durch nichts gerechtfertigten Krieg geführt hat, sondern auch, auf welch hinterhältige Weise sie Kritiker kaltgestellt hat. Das ist schwerlich mit dem Bild von George W. Bush als "einfachem, aber ehrlichen Kerl" aus Texas in Einklang zu bringen, welches das Weiße Haus in der Öffentlichkeit bisher so sorgsam gepflegt hat. In der sich über Monate hinziehenden Verhandlung gegen Libby wird noch manche unliebsame Wahrheit ans Licht kommen. Schon jetzt glaubt die Mehrheit der US-Amerikaner, dass Präsident Bush ein Lügner ist.

Eine Amtsenthebung von George W. Bush, wie damals bei Präsident Richard Nixon, erscheint derzeit zwar noch eher unwahrscheinlich. Aber bereits jetzt ist abzusehen, dass die Regierungsfähigkeit der Bush-Administration stark beeinträchtigt sein wird. Dies gilt insbesondere in bezug auf neue innen- oder außenpolitische Initiativen, denn jeder republikanische Kongreßabgeordnete, der wiedergewählt werden will, wird um Distanz zur moralisch und juristisch angeschlagenen Bush-Administration bemüht sein. Zugleich werden durch diese Entwicklungen all jene Kräfte, die sich bisher - aus welchen Gründen auch immer - einer direkten Kritik der Bush-Regierung enthalten hatten, ermutigt, ihrem lang angestauten Groll Luft zu machen. Durch die Anklageerhebung gegen Lewis Libby bestärkt, haben die Demokraten im US-Senat am 3.11.2005 nun endlich einen Zeitplan für die von Republikanern immer wieder verschobene Untersuchungskommission durchgesetzt, die klären soll, ob das Weiße Haus die nachrichtendienstlichen Beweise manipuliert hat, um den Krieg gegen Irak zu rechtfertigen.

Übrigens ist ebenfalls seit Ende Oktober endgültig bewiesen, dass die sogenannten "Tonking-Mitschnitte" (Abhörprotokolle des nordvietnamesischen Funkverkehrs), die vor 40 Jahren dazu benutzt wurden, den Bombenkrieg gegen Nordvietnam zu rechtfertigen, von der US-National Security Agency (NSA) teils manipuliert und teils gefälscht worden waren. Das US-Nachrichtenmagazin Time berichtete, dass eine geheime Studie zu den historischen NSA-Dokumenten zu diesem Schluß gekommen sei. Bemühungen des NSA-Historikers Robert J. Hanyok, das Ergebnis der Studie Anfang 2003 öffentlich zu machen, seien von höchster politischer Ebene der NSA abgeschmettert worden. Hauptgrund: "Weil befürchtet wurde, dass dies unbehagliche Vergleiche mit der fehlerhaften geheimdienstlichen Aufklärung provozieren würde, die zur Rechtfertigung des Irak-Krieges benutzt wurde."